Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Sonntag, 7. Februar 2016

Presseratsbeschwerde: TAZ - Interview mit Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber über "Blutrache"

Am 6.2.2016 wurde von mir folgendes Schreiben an den Presserat versandt:

                                                                                                  



                                                                                                      Istanbul, den 6.2.2016

Sehr geehrte Damen und Herren,

Hiermit möchte ich Beschwerde einreichen im Sinne des Pressekodex und bitte Sie, die notwendigen Überprüfungen vorzunehmen.

Beanstandete Veröffentlichung

Titel: Psychologin über Blutrache. „Eine grandios-narzisstische Geste“. Womit wird die Selbstjustiz gerechtfertigt? Die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts über Gerechtigkeit und kollektive Kränkungen.

Genre: Interview

Verantwortlicher Journalist/Interviewführung: Johannes Pitsch

Interviewte: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber (Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/Main)

Datum: 7.2.2015 (ohne Uhrzeitangabe)

Erscheinungsort: die tageszeitung (TAZ), online unter: http://www.taz.de/!5021542/

Grund der Beanstandung

Diskriminierung von Minderheiten/volksverhetzende Wirkung


Begründung:

Das Interview verfolgt offenkundig das Ziel, die Charlie Hebdo-Attentate in einen weiteren soziopolitischen Rahmen einzuordnen und im Rückgriff auf wissenschaftliche Theorien der Öffentlichkeit in ihren Ursachen verständlicher zu machen – und damit auch indirekt Anregungen für künftige Präventionsarbeit zu geben. Durch die Taz selbst (Überschrift, Unterzeile, Fragestellungen, Bildunterschrift) wird hierbei von Anfang an das Phänomen des internationalen Terrorismus, das sich gegen staatlich organisierte Gesellschaften richtet, primär als Kommunikationsstrategie zu verstehen ist und weitgehend ein Phänomen der Moderne bzw. Postmoderne darstellt, mit der Institution der Blutrache vermischt und diese dann wiederum mit individualpsychologischen Zuständen und gruppenpsychologischen Phänomenen (im Text: „Wut“, „Rache“, „Kränkungen“) in Verbindung gebracht.

„Blutrache“ ist üblicherweise ein Forschungsgebiet für Ethnologen oder historisch arbeitende Kulturwissenschaftler, es handelt sich bei ihr um einen Mechanismus zur Konfliktaustragung und -beilegung, wie er für segmentäre bzw. staatsferne Gesellschaften typisch ist. Sie folgt einem mündlich überlieferten, teils auch schriftlich fixiertem Kodex, dient der Herstellung bzw. Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Normen und Ordnungen unter Bedingungen der Abwesenheit eines zentralstaatlichen Gewaltenmonopols und hebt sich damit von außergesetzlichen Willkürakten („Selbstjustiz), die gegen eine bestehende gesellschaftliche oder staatliche Ordnung gerichtet sind, ab. Die Blutrache ist Bestandteil eines Rechtssystems, auch wenn dieses westlichen Gesellschaften - mittlerweile - fremd erscheinen mag und die Blutrache selbst modernen rechtsstaatlichen Prinzipien zuwiderläuft. Demzufolge kann man sehr wohl – jenseits kulturrelativistischer Befindlichkeiten - die Sinnhaftigkeit der entsprechenden Normen und Regeln hinterfragen oder sogar deren Abschaffung fordern, sollte man aber konzeptual zwischen „Terrorismus“ als politischem Phänomen, „Blutrache“ als innerhalb bestimmter Gesellschaftsformen vertretener soziopolitischer Institution und individual- oder gruppenpsychologisch motivierten Straf- und Gewalttaten trennen.

Eine Ineinssetzung bzw. Inbezugsetzung , wie sie in der TAZ de facto vorgenommen wird, knüpft an veraltete, wissenschaftlich diskreditierte Lehren aus dem 19./ beginnenden 20. Jahrhundert an, insbesondere an die Völkerpsychologie in ihrer Verbindung mit Kulturevolutionismus. Im Kern beinhalteten diese Lehren die Vorstellung einer Stufenabfolge menschlicher Zivilisation und das Postulat, daß andere (außereuropäische) Völker auf früheren Evolutionsstufen ständen. Man glaubte, daß die Völker, mit denen man im Zuge der Kolonialisierung in Kontakt gekommen war, in Bezug auf westeuropäische Gesellschaften sozusagen „lebendige“ Vergangenheit seien und sich im Vergleich mit den moderneren ,fortgeschritteneren Europäern durch eine mangelnde geistige/intellektuelle und emotionale Reife auszeichnen würden und etwa auch – in einer Parallele zur kindlichen Entwicklung – durch mangelnde Affektkontrolle auffielen. Institutionen wie „Blutrache“ in diesem Sinne als „kulturelle Regression in archaische Zeiten“ (Leuzinger-Bohleber) darzustellen, wie dies in der fraglichen TAZ-Veröffentlichung geschieht, gilt in der heutigen Ethnologie nicht mehr als angemessen. Des weiteren werden die von Redaktion und der Interviewten vorgenommenen Verknüpfungen auch nicht näher explifiziert bzw. mit Bezugnahme auf konkrete Sachzusammenhänge hinreichend begründet.

Vor diesem theoretischen Hintergrund oder Setting, das, soweit ersichtlich, von der TAZ selbst so gewählt wurde, werden im Verlauf des Interviews ethnisch und religiös definierte Kollektive in die Nähe von Straftaten bzw. terroristische Akte oder deren Gutheißung gerückt. Ich beziehe mich im folgenden konkret auf die Aussagen, die auf „Tschetschenien“ und „muslimische Gläubige“ in Tschetschenien bezogen sind, da hier mein eigenes Arbeitsgebiet und meine Fachkompetenzen am stärksten berührt sind. Die entsprechende Passage wird eingeleitet durch die explizite Frage des TAZ-Journalisten nach „Kränkungen“ und „kollektivpsychologische[n] Ursachen“ für die Tatsache, daß andernorts (in der TAZ-Veröffentlichung geographisch und religiös konnotiert, wie etwa die Formulierung „in der muslimischen Welt“ und die Bildunterschrift „In Afghanistan zeigt sich die Wut von Demonstranten gegen „Charlie Hebdo“” belegen) die Anschläge auf Charlie Hebdo „als verhältnismäßig wahrgenommen“ worden seien. Ich zitiere:

Johannes Pitsch:
Die Attentate stießen nicht überall auf Unverständnis, sondern wurden als verhältnismäßig wahrgenommen. Könnten die Kriege des sogenannten Westens in der muslimischen Welt und die Dämonisierung des Islams kollektivpsychologische Ursachen dafür sein?“
Marianne Leuzinger-Bohleber:
Ja, so gab es zum Beispiel in Tschetschenien Demonstrationen gegen Charlie Hebdo, in denen muslimische Gläubige die Karikaturisten beschuldigten, den Propheten und damit gläubige Muslims beleidigt zu haben. Dadurch trügen sie eine Mitschuld an ihrer Ermordung. Bei diesen Demonstranten spielen vermutlich die kollektiven Kränkungen durch die „Kriege des sogenannten Westens“ gegen Irak oder islamistische Terrorgruppen wie die IS durchaus eine Rolle.“
Auf einer faktischen, pragmatischen Ebene ist diese Darstellung verzerrend, da sie die Repressivität des Kadyrow-Regimes und damit die „Freiwilligkeit“ derartiger Demonstrationen ignoriert und dadurch – weitgehend im Sinne Putins – eine scheinbare Mehrheit an Tschetschenen zu „Terrorismusverstehern“ macht. Angesichts der Tatsache, daß die tschetschenische Exilregierung über ihren Vertreter Akhmed Zakayev die Attentate umgehend als „brutal“ und „inhuman“ verurteilt hatte und überdies noch betonte, daß Tschetschenen sehr gut nachvollziehen könnten, was es heiße, wenn im Zuge eines Streben nach Freiheit und Demokratie Journalisten und Menschenrechtler Gewalttaten zum Opfer fielen, mutet die Herstellung eines Zusammenhangs zu einer „tiefe[n] Enttäuschung an westlichen Werten“ (Leuzinger-Bohleber) hier geradezu grotesk an. Damit werden politische Zusammenhänge entstellt wiedergegeben, bis hin zu ihrer Verkehrung ins genaue Gegenteil.
Auf einer theoretisch-analytischen Ebene fällt auf, daß die Darstellung Leuzinger-Bohlebers an kolonialrassistische Stereotypen des 19. Jahrhunderts anschließt, insbesondere an die des „rachsüchtigen Tschetschenen“. Der Topos des gewaltaffinen, kriminellen und unbeherrschten Nordkaukasiers reicht zurück in die Zeit der Eroberung des Kaukasus durch das Zarenreich. In deren Zuge haben sich tiefsitzende kulturelle Codes herausgebildet, die auch dann aktiviert werden, wenn sich der Verwender deren Implikationen nicht oder nicht voll bewußt ist. Das Bild des unbeherrschten und unbeherrschbaren, rachsüchtigen, impulsiven Nordkaukasiers hatte u.a. die Funktion, die ordnungsstiftende und zivilisierende Rolle der russischen Militärverwaltung hervorzuheben und damit die russische Eroberung zu legitimieren. In seiner Extremform bildete es Teil genozialer Diskurse, diente der Vorbereitung, Durchführung und nachträglichen Rechtfertigung einer Politik der Massaker, der Hungerblockade, der Vertreibungen und der (zumindest kulturellen) Exterminierung. Heutigen Nordkaukasiern sind diese diskursiven Zusammenhänge durchaus noch präsent.

In Anbetracht dieser Tatsachen möchte ich Sie bitten, zu überprüfen, inwiefern hier, d.h. insbesondere mit dem Rekurs auf kolonialrassistische Stereotypen, Ziffer 1 („Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde“), Ziffer 10 („Religion, Weltanschauung, Sitte“) und Ziffer 12 („Berichterstattung über Straftaten“) des deutschen Pressekodexes verletzt wurden. Meines Erachtens wird im vorliegenden Interview mittels verzerrender Fragestellungen und Deutungsweisen ein - sachlich nicht gegebener Zusammenhang - zwischen tschetschenischer „Mentalität“ (so möchte ich Leuzinger-Bohlebers Ausführungen hier einmal sinngemäß zusammenfassen) und einem terroristischen Verbrechen hergestellt bzw. ein solcher zumindest dem Leser gegenüber insinuiert. Mit dem vorliegenden Interview wird ethnische und religiöse Stereotypenbildung befördert und werden bereits vorhandene Vorurteile gegenüber den erwähnten Gruppen geschürt und „wissenschaftlich“ bestätigt. Die Veröffentlichung ist damit, gerade zu Zeiten von Bewegungen wie Pegida, geeignet, ein friedliches Zusammenleben innerhalb Deutschlands zu gefährden und dort volksverhetzende Wirkung zu entfalten. Ich sehe die Aufgabe von Medien gerade auch in der Aufklärung über derartige Sterotypen und Klischees und deren ideengeschichtliche Herkunft wie auch deren aktuelle politische Nutzbarmachung (Instrumentalisierung) und bin der Ansicht, daß hier das vorliegende Interview einen gegenteiligen Effekt hat.

Mir ist bewußt, daß Interviews oftmals die Funktion haben, die „Meinungen“ und Positionen bestimmter Personen abzubilden, unabhängig davon, ob diese Meinungen und Positionen nun faktisch korrekt bzw. nachvollziehbar oder ethisch teilbar sind, sowie daß hier dann entsprechend das Gebot der Meinungsfreiheit greift. Allerdings handelt es sich meiner Auffassung nach im vorliegenden Fall weniger um ein personenbezogenes, denn um ein sachzentriertes Interview. Das Interview hat die Gestalt einer Kommentierung bzw. Analyse des Zeitgeschehens aus Expertensicht und konzentriert sich gerade nicht darauf, eine bestimmte Wissenschaftlerin und die von ihr betriebene Forschung vorzustellen. Berücksichtigt werden sollte auch, daß Aussagen von Akademikern in einer modernen Informationsgesellschaft für gewöhnlich ein besonders hohes Maß an Autorität und Legitimität besitzen, einem allgemeinen Publikum „Wahrhaftigkeit“ signalisieren und daß ihnen hiermit in besonderem Maße eine meinungsbildende Wirkung zukommt.

Meiner Auffassung nach hat die TAZ auch selbst in erheblichem Maße ihre eigene Sorgfaltspflicht (Ziffer 2, Pressekodex) verletzt. Daß in der Interviewführung bedeutsame Fehler gemacht wurden, wurde hier bereits in der Form angesprochen, daß der Interviewer mit seinen Fragen und Stichworten bereits selbst einen einen fragwürdigen Rahmen absteckt. Frau Leuzinger-Bohleber hat sich bedauerlicherweise an etlichen Stellen (nicht überall) hierauf eingelassen. Hiermit in Zusammenhang stehend ist zu beobachten, daß die im Interview berührten Themengebiete zu einem beträchtlichen Teil nicht mit den Fachkompetenzen bzw. dem akademischen Profil der Interviewten übereinstimmen, die konkrete Themenstellung für eine Psychologin eher ungeeignet und unvorteilhaft war. Zu bemängeln ist insbesondere, daß die TAZ weder durch Nachfragen während des Interviews noch durch eine nachträglich hinzugefügte Begleitnotiz kenntlich gemacht hat, wo sich Frau Leuzinger-Bohleber als Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts äußert und wo sie lediglich ihrer persönlichen, auf Laienurteilen basierenden Meinung Ausdruck verleiht (wie eben in oben zitierter Passage zu Tschetschenien). Für den Laienleser dürfte damit kaum nachvollziehbar sein, welche der im Interview getroffenen Aussagen denn auch tatsächlich wissenschaftlich untermauert sind. Auch sollte Wissenschaftsjournalismus, und hierum handelt es sich strenggenommen, auf wissenschaftliche Standards Rücksicht zu nehmen und veraltete Theorien nicht einem allgemeinen Publikum als aktuellen Kenntnisstand anbieten.

Auf die Mängel des Interviews aus fachlicher Sicht war die TAZ von mir bereits in Kurzform, u.a. per email, bereits hingewiesen worden, hat hierauf aber nicht reagiert bzw. sogar entsprechende Leserkommentare meinerseits einfach gelöscht, so daß zusätzlich fraglich ist, ob die TAZ hier nicht ihre Pflicht zur Richtigstellungverletzt hat (Ziffer 3 „Richtigstellung“ , evtl. zusätzlich Ziffer 2.6 „Leserbriefe“, Ziffer 2.7 „Nutzerbeiträge“ des Pressekodexes). Diese Nichtkorrektur dürfte auch praktische Relevanz haben insofern, als Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber u.a. in der Traumaarbeit mit Flüchtlingen tätig ist. Sie und andere sollten auf die – zugegebenerweise bei uns noch wenig bekannten – entsprechenden Klischees und Stereotypen sowie deren kolonialgeschichtliche Herleitung hingewiesen werden. Ansonsten besteht Gefahr, daß Flüchtlinge aus der Rußländischen Föderation und Syrien (dort existierte bislang eine nordkaukasische Diaspora) in deutschen Hilfseinrichtungen bzw. von Psychologenseite mit genau denjenigen Stereotypen und rassistischen Klischees konfrontiert werden, die in ihrer Heimat nicht nur weitverbreitet sind und dort für ein feindseliges Klima sorgen, sondern unter Umständen sogar als Rechtfertigung für Repression, Verfolgung und Folter gedient haben.

Da die von mir hier angesprochenen Sachverhalte und Zusammenhänge bzw. die Themengebiete, die von meinen Ausführungen berührt werden, einer allgemeinen Öffentlichkeit eher unbekannt sein dürften, habe ich mir erlaubt, als Ergänzung zum gegenwärtigen Schreiben meine Kritikpunkte an der fraglichen Publikation noch einmal gesondert in einem Blogtext (abrufbar unter: http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com.tr/2016/02/der-rachsuchtige-tschetschene-wie-die_6.html) zu benennen. Bitte beachten Sie, daß Sie dort auch die entsprechenden Belege und Verweise auf die Fachliteratur finden.



Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen,

                                                                      Irma Kreiten, Historikerin und Ethnologin (M.A.)

Samstag, 6. Februar 2016

Der "rachsüchtige Tschetschene" - Wie die taz Kolonialrassismus befördert

Am 7.2.2015 ist in der TAZ ein Interview unter dem Titel: „Psychologin über Blutrache. „Eine grandios-narzisstische Geste“. - Womit wird die Selbstjustiz gerechtfertigt? Die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts über Gerechtigkeit und kollektive Kränkungenerschienen, das mir durch Tendentiosität und Unprofessionalität in mehrerlei Hinsicht aufgefallen war. Interviewt wird Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des in Frankfurt/Main beheimateten Sigmund Freud-Instituts, Interviewer ist ein noch sehr junger Redakteur, der bislang vor allem zu popkulturellen Themen geschrieben hatte, keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet des Wissenschaftsjournalismus vorzuweisen hatte und offenkundig fachlich um einiges überfordert gewesen war. Die TAZ-Redaktion hat sich offenbar nicht bemüßigt gesehen, auf meine kurzgehaltenen Hinweise auf die Problematik des Interviews mit Marianne Leuzinger-Bohleber einzugehen. Da die Redaktion ohnehin bereits über einen längeren Zeitpunkt hinweg mir gegenüber einen bemerkenswerten Mangel an Sinn für gute Umgangsformen bewiesen hatte, wähle ich nun den formellen Weg jenseits der Befugnisse der TAZ. Der hier folgende Text dient der Benennung meiner Kritik im Detail und ihrer sachgerechten Begründung. 
 
Tschetschenien, Hort der Terrorismusversteher

Ich beginne mit einer Analyse derjenigen im Interview getroffenen Aussagen, die mein eigenes wissenschaftliches Arbeitsgebiet (ethnologisch-historische Beschäftigung mit der russischen Unterwerfung des Nordkaukasus und den zugehörigen Kolonialdiskursen) am unmittelbarsten betreffen. Leuzinger-Bohleber tätigt im Interview Aussagen zu Tschetschenien und Tschetschenen als ethnischem Kollektiv, die eine hohe Suggestionskraft besitzen, geeignet sind, ohnehin in der westeuropäischen Bevölkerung vorhandene, massive Feindbilder „wissenschaftlich“ zu bestätigen und weiterzutradieren und darum so nicht stehenbleiben dürfen. In der fraglichen Passage beantwortet Leuzinger-Bohleber die Frage nach „kollektivpsychologische[n] Ursachen“ dafür, daß die Charlie-Hebdo-Attentate „nicht überall auf Unverständnis“ gestoßen wären, sondern in manchen Teilen der Welt „als verhältnismäßig wahrgenommen“ worden seien. Ich zitiere sie hier im Ganzen:

Ja, so gab es zum Beispiel in Tschetschenien Demonstrationen gegen Charlie Hebdo, in denen muslimische Gläubige die Karikaturisten beschuldigten, den Propheten und damit gläubige Muslims beleidigt zu haben. Dadurch trügen sie eine Mitschuld an ihrer Ermordung. Bei diesen Demonstranten spielen vermutlich die kollektiven Kränkungen durch die „Kriege des sogenannten Westens“ gegen Irak oder islamistische Terrorgruppen wie die IS durchaus eine Rolle.“

Frau Leuzinger-Bohleber leistet hier unzulässige kulturalistische Verkürzungen, die die politisch äußerst repressive Situation in Tschetschenien vollkommen ausklammern. Es wäre bereits den damaligen, problemlos erhältlichen westlichen Presseberichten zu entnehmen gewesen, daß die tschetschenischen Proteste gegen Charlie Hebdo von Kadyrow angeleiert und forciert worden waren und auch er selbst die zentrale Rede hielt, in der die "Beleidigung der religiösen Gefühle" durch Charlie Hebdo verurteilt wurde. Demonstranten berichteten, daß sie zur Teilnahme gezwungen worden waren.i Mit Druck und Drohungen inszenierte, nur scheinbar spontane Massenproteste“ sind für das Tschetschenien des von Putin unterstützten, autoritär regierenden Ramzan Kadyrow ohnehin nichts Unübliches.ii Auch dürften diese Proteste kaum ohne Billigung Moskaus erfolgt sein, die Demonstrationen in Tschetschenien lagen auf Kreml-Linie zumindest insofern, als die staatliche Informationsaufsichtsbehörde Roskomnadzor gewarnt hatte, daß die Weiterveröffentlichung von Charlie Hebdo-Cartoons in Rußland als Straftatbestand gewertet werden könne.iii

Die offizielle russische Reaktion auf Charlie Hebdo kann als ambivalent gewertet werden.iv In Richtung auf seine westlichen Gesprächspartner hin drückte der russische Präsident Bedauern aus. Das russische Boulevardblatt "Komsomolskaya Pravda" etwa wartete hingegen mit antiamerikanischen Verschwörungstheorien auf und erklärte ausführlich, aus welchen Gründen man sich gerade nicht mit Charlie Hebdo identifiziere.v Von Seiten eines Sprechers der Orthodoxen Kirche wurden – in einer Parallele zur Roskomnadzor-Verordnung – "religiöse Gefühle" explizit dem Recht auf freie Meinungsäußerung vorgeordnet.vi Den tschetschenischen Protesten gegen Charlie Hebdo schlossen sich auch russische orthodoxe Prälaten an, wohingegen zwei Demonstranten mit "Je suis Charlie"-Plakaten in Moskau festgenommen wurden. Eine Gruppe radikaler russisch-orthodoxer Aktivisten, die für ihren öffentliche Aktionen gegen "Blasphemie" bekannt ist, sah in dem Anschlag auf Charlie Hebdo sogar eine gerechte Strafe Gottes.vii
 
Von einer "archaischen" Gemütsverfassung des russischen Volkes, der orthodoxen Gläubigen oder gar der Tradition des russischen "Duells" als Form der außergerichtlichen Konfliktbearbeitung mit oftmals tödlichem Ausgangviii spricht Frau Leuzinger-Bohleber hier jedoch nicht, "Rachegefühle" als Movens kollektiven Handelns bleiben dem nichteuropäischen „Anderen“ vorbehalten, werden für den postsowjetischen Raum allein auf tschetschenische Muslime und deren nicht näher erläuterte Demütigungserfahrungen projiziert. Umgekehrt findet die Tatsache, daß Tschetschenen sich explizit gegen terroristische Vorgehensweisen ausgesprochen hatten, keinerlei Erwähnung. Akhmed Zakayev, Kopf der offiziell nicht anerkannten tschetschenischen Exilregierung “Itsckeria“, hatte sofort nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo eine Solidaritätsbotschaft an den französischen Präsidenten, an die Redaktion Charlie Hebdo und allgemein an "die Bürger Frankreichs" versandt, den Angriff auf die Satirezeitschrift scharf verurteilt und betont, daß gerade auch die Tschetschenen wüßten, was es heißt, wenn Journalisten und Menschenrechtler aufgrund deren Einsatzes für Menschenrechte und Demokratie umgebracht werden.ix Wie seltsam mutet es angesichts dessen an, wenn jemand, der über mögliche „Demütigungserfahrungen“ spekuliert, überhaupt nicht darüber reflektiert, daß solche gerade auch im Verwehren von – sehnlich erwünschten – demokratischen Strukturen gegeben sein könnten. 
 
Kurzum: Im entsprechenden Interviewabschnitt wird das mittlerweile international gängige Stereotyp vom ungehobelten, ungezügelten, gewaltaffinen Tschetschenen bedient. „Hard facts“ aus dem aktuellen Nachrichtengeschehen, die hier zumindest partiell korrigierend gewirkt hätten, werden ausgelassen oder verzerrend wiedergegeben. Der Redakteur läßt dies ohne kritische Nachfragen und Korrekturen einfach so stehen. Karikatur, wie sie im Interesse des Kreml Verbreitung findet.

Kolonialrassistische Stereotypen und ihre Verwendung in genozidalen Diskursen
Der „wilde Nordkaukasier“ ist keineswegs ein Produkt der beiden Tschetschenienkriege der 1990er oder einer nachträglichen Stereotypisierung einer international auffälligen, ethnisch konnotierten Tätergruppe, die entsprechenden Topoi gehen auf die blutige zaristische Kolonialisierung des Kaukasus im 19. Jahrhundert zurück, haben diese begleitet und begründet/legitimiert. Es existiert in hinreichendem Maße bereits (öffentlich zugängliche!) Fachliteratur zu diesem Thema, die ich hier – zusammen mit meinen eigenen Forschungen – in Ausschnitten bzw. wesentlichen Punkten vorstellen werde. Die Auseinandersetzung mit dem (Nord-)Kaukasus hat Rußland gerade im kulturellen Bereich in einem Maße geprägt, wie dies keine andere Region in der gesamten russische Kolonialgeschichte vermochte.x Hierüber haben sich tief im gesellschaftlichen Bewußtsein verankerte Codes herausgebildet, die auch wirken, wo offener Rassismus nicht das Ziel ist. Sogar im russischen Wiegenlied (mit Text von Michail Lermontov) ist vom bösen Tschetschenen die Rede, der nachts am Flußufer herumschleicht und sein Messer wetzt.xi
 
Nationaldichter Alexander Puschkin, dessen eigener Umgang mit dem Nordkaukasus zwar multisemantisch war, aber eben auch das Bild des von Natur aus gewalttätigen Bergbewohners beinhaltete, beschrieb in ikonisch gewordenen Zeilen das Wesen des Nordkaukasiers soxii:

Es gibt kaum eine Möglichkeit, sie zu befrieden, es sei denn, man entwaffnete sie, wie man die Krimtataren entwaffnet hat, was überaus schwierig durchzuführen ist in Folge der unter ihnen herrschenden Erbstreitigkeiten und der Blutrache. Dolch und Säbel sind Teile ihres Körpers, und der Säugling beginnt sie zu beherrschen, noch ehe er sein erstes Wort stammelt. Mord ist bei ihnen - nur eine Körperbewegung.

Der Topos vom wilden, impulsiven, ungezügelten Kaukasier diente russischen Intellektuellen, Militärs und Verwaltunsbeamten der Rechtfertigung eines kolonialen Projektes. Der Zustand von Willkür, in dem sich die lokalen Gesellschaften angeblich befanden, verlangten nach der ordnenden und zivilisierenden Hand der Kolonialverwaltung und einer allmählichen Erziehung hin zu mehr Selbstkontrolle und einer Wandlung “problematischer” Mentalitäten. Zum russischen Kolonialmythos dazu gehörte die Vorstellung, daß die Expansion in den Kaukasus nicht von Gier oder territorialen Gelüsten getrieben sei, sondern vom Vorhaben, der örtlichen Bevölkerung Recht und Gesetz zu bringen, damit ein “ziviles”, friedliches Leben überhaupt erst möglich zu machen. “Wildheit” und Affektgesteuertheit/Abwesenheit ausreichender Selbstkontrolle wurde dabei u.a. auch mit krimineller Veranlagung gleichgesetzt und die russische Kolonialgesellschaft erfreute sich an sensationalistischen Geschichten über Mord, Raub, Eifersuchtsdramen und Gewalt in der Familie, die als Ausdruck eines nordkaukasischen Volkscharakters gelesen wurden. xiii

Laut Harsha Ram, einem amerikanischen Russisten und Literaturwissenschaftler, bestand der russische „Tschetschenen“-Mythos im Kern sogar in der Reflexion über „Recht“ und dessen Verhältnis zu „Gewalt“. Typisch für den russischen Kolonialdiskurs sei vor allem das Vermischen von lokalen, kodifizierten Formen der individuellen und kollektiven Konfliktaustragung mit der nordkaukasischen Reaktion auf die russische Expansion gewesen. Der Topos vom gewaltaffinen Nordkaukasier diente so nicht nur zur Rechtfertigung der kolonialen Expansion sondern umgekehrt auch der Diskreditierung des nordkaukasischen Widerstandes gegen die russische koloniale Expansion. In der Sicht Lermontovs etwa stellte dieser Widerstand keine legitime politische Kraft dar, sondern wurde als chaotische, raubtierhafte Gewalt beschrieben, die auf einer elementaren Racheinstinkt anstatt auf einem entwickelten Gerechtigkeitssinn basisere. xiv



[Wird bis zum 8.2.2016 vervollständigt. Ich bin leider aufgrund meines Gesundheitszustandes gezwungen, ständige Pausen bei der Bildschirmarbeit einzulegen. Vorab eingestellt worden sind die obigen Textabschnitte, da es sich bei ihnen um den Kernbereich meiner Kritik handelt und ich hier bereits auf deren wissenschaftliche Belegbarkeit und Belegtheit und den entsprechenden Forschungsstand hinweisen wollte. Es wird mir ja unter Profitieren von meiner gesundheitlichen Situation gerne von Gegnern mit unterschiedlicher Motivation untestellt, ich hätte nichts weiter vorzubringen als das, was ich bereits vorgebracht bzw. veröffentlicht habe].



Zusatzdokumentation: Eine großartige Geste

Eine Intervention meinerseits per Leserkommentar hatte die TAZ nicht zugelassen. Hier noch mal der Text meines offenbar "infamen" Kurzkommentars (eine wirkliche wissenschaftliche Auseinandersetzung ist ohnehin über die Kommentarfunktion nicht möglich) zum Nachlesen:

"Ethnologen werden sich beim Lesen die Fußnägel kringeln. Was denkt sich die Dame überhaupt dabei, sich zu einem Wissensgebiet zu äußern, auf dem sie offenbar nicht im Geringsten kompetent ist? Etliche der Behauptungen sind kruder Unfug und noch dazu rassistisch bzw. in höchstem Maße ethnozentrisch. Aber typisch für deutsche Zeitungen, daß man das Ausbreiten von liebgewonnenen Stereotypen und Märchen darüber, wie der Fremde sei, denke und fühle, einem fakten- und wissensbasierten Argumentieren vorzieht. Das Klischee lebe hoch."




Ja, ich gebe zu, ich hätte meine Kritik wahrscheinlich sehr viel mehr noch an die Taz-Redaktion selbst richten müssen als an Frau Leuzinger-Bohleber , war aber zunächst ziemlich verärgert und auch schockiert über das, was ich da über mein - von der Taz ansonsten sträflich vernachlässigtes - Fachgebiet lesen mußte. Anders als das sonst mitunter gehandhabt wird, findet sich numehr in der Kommentarspalte nicht einmal mehr ein Hinweis darauf, daß hier von der Online-Redaktion gelöscht wurde. Sogar über mein TAZ-Profil ist der Kommentar nicht mehr abrufbar (siehe: https://www.taz.de/!ku450/).


Literatur:
x Thomas Barrett, The Remaking of the Lion of Dagestan: Shamil in Captivity, Russian Review,
Vol. 53, Nr. 3 (Juli 1994), S. 353-366, S. 360, online abrufbar unter: https://sites.evergreen.edu/russiawinter/wp-content/uploads/sites/47/2015/01/Jan-27-Shamil-in-Captivity.pdf
xiiDeutsche Übersetzung zitiert nach: Katharina Kickinger, Der „wilde Kaukasus“ in europäischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, Diplomarbeit, Wien 2013, S. 96, online unter: http://othes.univie.ac.at/27130/1/2013-01-31_0647760.pdf
xiiiAustin Jersild, Orientalism and Emire. North Caucasus Mountain Peoples and the Georgian Frontier, 1845-1917, Montreal 2002, S. 69, S. 89-105
xiv Harsha Ram, Prisoners of the Caucasus: Literary Myths and Media Representations of the Chechen Conflict. Berkeley, 1999, S. 4-5, online at: http://escholarship.org/uc/item/45t9r2f1
 
 

Mittwoch, 3. Februar 2016

Herfried Münkler und Freiherr von der Goltz: Die Affinität von Geopolitik zu genozidalen Diskursen

**** Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer längeren Analyse des münklerschen Umfeld. Eine solche ist bei mir  in Arbeit,  ich konnte sie aus gesundheitlichen Gründen bisher aber noch nicht fertigstellen. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Polarisierungen und der Notwendigkeit eines diskursiven Gegensteuerns halte ich ein noch längeres Warten nicht für sinnvoll, auch wenn damit meine Argumentation zunächst einmal an Überzeugungskraft einbüßen sollte und ich leider nicht eine perfekte Textoberfläche liefern kann. Eine detailliertere geistesgeschichtliche wie politische Eindordnung und ein argumentatives Aufzeigen von entsprechenden Zusammenhängen wird folgen, sobald mir dies in praktischer Hinsicht möglich sein wird. Meine Beschäftigung mit Münkler ist meiner eigenen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Völkermord an den Tscherkessen geschuldet und der daraus resultierenen Konfrontation mit den - nicht nur auf den historischen Einzelfall oder auf eine konkrete Region bezogenen - gesschichtsrevisionistischen und völkermordverharmlosenden - Tendenzen des münklerschen und baberowskischen Umfelds. ****


Der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler
Ein Artikel Münklers, der meine Arbeitsgebiete streift und meine regionalen Präferenzen berührt, ist "Der Untergang des Osmanischen Reiches", erschienen auf den Seiten des Goethe-Institutes anläßlich des Gedenkens an 100 Jahre 1. Weltkrieg im Jahr 2014. Es geht um außenpolitische Strategien, Interessen, Einflußnahmen und die Rivalität der europäischen Großmächte untereinander. Daß Münkler hier nicht an reiner wissenschaftlicher Erkenntnis interessiert ist, sondern den Blicken eines Staatsmannes (bzw. Politikberaters) folgt, der darum besorgt ist, Deutschland zu einer international favorablen Stellung zu verhelfen, äußert sich u.a. darin, daß Münkler seine Darstellung an Kategorien wie  Erfolg und Mißerfolg - "Gelingen" vs. "Fehlschlag" - ausrichtet. An anderer Stelle spricht Münkler selbst in Bezug auf die Wahrnehmungs- und Handlungsweisen historischer Akteure vom "Maßstab der Effizienz" (" Effizienz steht für einen heroismuskritischen Blick auf das Kampf- und Kriegsgeschehen. Ihr geht es nicht um ethisch-ästhetische Ideale, sondern um das Verhältnis von Aufwand und Ertrag. ").Eine analytische Metaebene, die sich mit der Mechanik und ideologischen Prämissen des "Great Game" auseinandersetzen würde, fehlt hingegen weitgehend (bzw. ich meine, sie fehlt gänzlich!). Die Metaphorik ist bisweilen auf befremdliche Weise organizistisch, etwa wenn es heißt, Eisenbahnlinien seien die "Blutbahnen" gewesen, "die dem erstarrten Leib des Osmanischen Reiches neues Leben verleihen sollten".

Unter Teilüberschriften wie "Deutsche Hoffnungen auf einen islamischen Antiimperialismus" verhandelt der Artikel explizit auch geopolitischen Ambitionen des deutschen Kaiserreiches im Nahen Osten und die Strategien, die in deren Zuge zum Einsatz kamen. Etliche Passagen sind hierbei dem deutschen Militärberater und Reformator des Osmanischen Heeres Colmar von der Goltz (1843-1916) gewidmet. Goltz wird von Münkler - auf meines Erachtens durchaus schmeichelhafte Weise - als "eher einem Intellektuellen als einem preußischen Offizier" gleichend charakterisiert. Er sei ein "guter Kenner" des Balkan und des Osmanischen Reiches gewesen. Die goltzsche Strategie schildert Münkler als die eines "diffusen Antiimperialismus, den er durch die Ausrufung des Heiligen Krieges der Muslime befördern wollte". Insgesamt aber ist der Tonfall interessiert bis anerkennend.In einer Passage, in der es um eine Effektivitätssteigerung der osmanischen Truppen geht, heißt es zu Goltz:                                              
Colmar Freiherr von der Goltz (Quelle: Wikipedia)

"Welche Rolle dabei die strategische Führung und die taktischen Instruktionen durch deutsche Offiziere gespielt haben, ist in der einschlägigen Literatur umstritten. Zweifellos haben die Generäle Otto Liman von Sanders und Colmar von der Goltz eine wichtige Rolle gespielt; sie förderten das Vertrauen der türkischen Soldaten und Offiziere, ihren europäischen Gegnern ebenbürtig zu sein."                    

Vor dem Hintergrund der britischen Niederlage südlich von Bagdad im Jahr 1916 wird Goltz mit dem Attribut "Planer dieses Sieges" belegt. Anstelle einer distanzierenden Aneignung des historischen Deutungskontextes scheint Münkler die goltzsche Politik auf deren Erfolgspotential hin abklopfen zu wollen. So spricht er vom "Fehlschlag der islamisch grundierten Diversionsstrategie der Deutschen" und begibt sich denn auch gleich im Anschluß auf Ursachensuche. Einer der Gründe für das Scheitern der deutschen Strategie sei gewesen, daß "der Große Generalstab nicht wirklich an sie glaub-te" (sic.). Einschätzungen der historischen Akteure und Beurteilung/Analyse durch den rückwärtsblickenden Historiker gehen hier nahtlos ineinander über. Münkler blickt seinen historischen Protagonisten nicht nur über die Schulter, um deren Denken und Handeln und damit den historischen Prozeß besser verstehen zu können, die Figur des heutigen Politanalysten und -strategen scheint angesichts gemeinsamer Interessen und Anliegen mit seinen damaligen Berufsgenossen zu verschmelzen. Das abschließende Urteil über Goltz und weitere deutsche Nahost-Strategen fällt denn auch durchaus anerkennend aus. Münkler schreibt:

"In der Retrospektive kann man sagen, dass dies ein modernes Revolutionskonzept war, bei dem jedoch zu wenig berücksichtigt war, dass es sich in nationalistischer Ausrichtung auch gegen das Osmanische Reich richten ließ. Hier setzten die Briten an [...]. Der islamische Antiimperialismus, auf den von der Goltz und die anderen gesetzt hatten, zeitigte dagegen nur marginale Wirkung. Rückblickend ist fest-zuhalten, dass von der Goltz der Zeit um einige Jahrzehnte vorausgewesen ist."

Liefert man den bei Münkler fehlenden ereignisgeschichtlichen wie diskursiven Kontext nach, erhält gerade diese letztaufgeführte Bewertung einen überaus zynischen Klang. Sehen wir uns darum kurz an, wie Goltz in den Werken anderer Historiker, hier eines Buches Vahakn Dadrians, eingeordnet wird.
 
Vahakn N. Dadrian ist ein armenischstämmiger Historiker und gilt unter denjenigen, die sich mit dem Genozid an den Armeniern auseinandersetzen, als einer der weltweit profiliertesten Autoren, aber auch als Hardliner. Sein Ansatz mag nicht unumstritten sein und seine Werke mag eine gewisse Polemik auszeichnen (er wird mitunter als "partisan scholar" bezeichnet); seine Arbeiten gehören jedoch zu den richtungsweisenden Standardwerken und sind damit definitiv zitierfähig. Hier wird es ohnehin um einen Teilaspekt seiner Forschung, um die einzelnen "hard facts" und nicht um die ganz großen Deutungslinien gehen. Daß Colmar Freiherr von der Goltz, während der Ausführung des Völkermordes an den Armeniern zugegen war und Goltz, wie auch andere deutsche Militärberater im ausgehenden Osmanischen Reich, hierbei eine Mitschuld trifft, dürfte ohnehin unstrittig sein.

In "The History of the Armenian Genocide. Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus" (New York/ Oxford: 1995 (2004)) geht Dadrian im 16. Kapitel (ab S. 248) auf das Problem der deutschen Mitwirkung und insbesondere die projektive Identifizierung des deutschen Kaisers mit dem Osmanischen Reich als einem (vermeintlich) theokratischen "Preußen des Orients" ein. Goltz kam in diesem Zusammenhang die Rolle eines politischen Vordenkers zu, er hatte so schon in den 1890ern empfohlen, das Osmanische Reich müsse sich, um überlebensfähig zu bleiben, auf eine islamisch-asiatische Kernidentität konzentrieren. Goltz soll 1914 in Berlin einen von der Deutsch-Türkischen Vereinigung organisierten Vortrag gehalten haben, in dem er die These aufstellte, die Türkei müsse, um sich vor desaströsen Einmischungen von russischer Seite zu schützen, ein für alle Mal die armenischen Bewohner von Bitlis, Van und Erzurum aus der osmanisch-russischen Grenzregion entfernen und eine halbe Million Menschen nach Aleppo und Mesopotamien umsiedeln (Dadrian, S. 255). Dadrian stuft diese Zusammenfassung des Inhalt von Goltz' Vortrag als glaubwürdig ein; damit stellt sich die Frage, inwieweit Goltz nicht nur Mitwisser und beteiligter Zuschauer war, sondern in seiner Funktion als Militärberater sogar der ursprüngliche Stichwortgeber für eine Deportation der Armenier und die sich daraus entwickelnden genozidalen Tendenzen war.

Bei Münkler liest man hiervon kein Wort. Armenier oder andere nichttürkische Minderheiten und deren Schicksal im ausgehenden Osmanischen Reich bzw. angesichts der kemalistischen Turkifizierungspolitik (die entgegen landäufiger Vorstellungen auch vorwiegend muslimische Bevölkerungsgruppen wie die der Tscherkessen und anderer Nordkaukasier betraf) werden in seinem Artikel nicht ein einziges Mal erwähnt. Dieses Fehlen bewegt sich hart an der Genozidleugnung, it zumindest aber geschmacklos.... Noch frapierender und beunruhigender ist jedoch die Verwandtheit der Denklogiken, die in der münklerschen Schilderung der Nahostpolitik des wilhelminischen Reiches zum Ausdruck kommt. Auch Münkler geht es offenbar ums "große Ganze". Er denkt in Einflußgebieten und überlegt, welche Denk- und Handlungsweisen zum geopolitischen Erfolg führen. Hierfür nimmt er eine Vogelperspektive ein, in der Minderheiten und Partikularinteressen im Zuge zielorientierten Handelns strategisch operabel sein mögen, für sich, in ihren eigenen Interessen und ihrer eigenen Wertigkeit aber nicht von Gewicht sind und auch ganz "weggelassen" werden können. Nimmt man es ganz genau, dann handelt es sich bei derartigen omissiven Darstellungen um ein Verweilen im finalen Stadium genozidaler Gewalt, dem des Verschweigens dessen, was sich zugetragen hat und eines Vergessens (Leugnens) der Opfer.