Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

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Donnerstag, 24. April 2014

Jochen Scholz: Friedensreferent, Verschwörungstheoretiker und Eurasien-Stratege


Immer wieder ist es abgestritten worden: die deutsche Friedensbewegung sei nicht politisch einseitig, sie sei vielschichtig und kritisch, sie pflege keine historisch gewachsenen Rücksichtnahmen auf Rußland, habe zudem auch kein Extremismus-Problem. Nun, da rechtspopulistische Montagsdemos mit dem Schlagwort "Frieden" hausieren gehen, wird behauptet, diese seien ein separates Phänomen und hätten nichts mit den "echten" Friedensaktivisten zu tun. Beides geht an der traurigen Realität vorbei: Am 28.3.2014 wurde u.a. über die marxistisch orientierte Neue Rheinische Zeitung und die Junge Welt ein  "Offener Brief an Putin" veröffentlicht, in dem "deutsche Intellektuelle" - explizit vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise und des russischen Vorgehens auf der Krim - dem russischen Präsidenten ihre Solidarität aussprechen und dies mit einem deutschen Friedenswillen begründen. Unter den Unterzeichnern: Funktionsträger der Linkspartei, Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und von Pax Christi, Mitarbeiter weiterer linker Online-Zeitschriften und Vertreter diverser Friedensgruppen.

Ein zweiter Blick zeigt, daß es sich bei dieser Briefaktion um eine Querfront-Initiative handelt und sich hier auf ähnliche Weise wie bei den neuen Montagsdemos "Friedenskämpfer" der alten Garde mit entsprechenden Loyalitätsgefühlen gegenüber Rußland alias der Sowjetunion mit Rechtsextremen, Antisemiten und Verschwörungstheoretikern zusammenfinden, um einer völkischen Expansionspolitik (bzw. alternativ zur Quelle aus Regierungssicht hier die Kritik am Erstarken völkischer Argumentationsmuster aus Antifa-Perspektive) das Wort zu reden. Wohlgemerkt: es geht mir hier keinesfalls darum, eine NATO-Expansionspolitik gutzuheißten, sondern um die Erkenntnis, daß wir uns in ein neoimperiales, von Ressentiments, Feindbildern und Militarismus geprägtes Zeitalter hineinbewegen, das von der Konkurrenz unterschiedlicher Machtblöcke lebt. Beide haben sie ein Interesse daran, sich jeweils als "alternativlos" zu präsentieren, womit sie trotz aller Gegensätzlichkeit letzendlich der gleichen Logik zuarbeiten und sich wechselseitig im Prozesse einer steten Polarisierung die Bälle zuspielen. Eine Kritik, die dieses neue alte internationale System, daß auf Geopolitik und militärische Interessensdurchsetzung setzt,als solches betreffen würde und sich darum gleichermaßen an alle Seiten richten würde, wird gemeinsam unterbunden.

Relevant ist dies für das Thema meines Blogs, den Völkermord an den Tscherkessen im engeren und die Kolonialgeschichte Rußlands im weiteren Sinne insofern, als hier ein gemeinschaftliches Interesse zwischen links und rechts zu Tage tritt, Diskussion und Aufarbeitung russischer Kolonialgewalt zu verhindern. Auf rechtskonservativer bzw. rechter Seite, weil man prinzipiell kein Interesse an einem Zur-Sprache-Bringen von genozidaler Gewalt und einem Überdenken eurozentrischer Positionen hat, man wohl auch instinktiv die Verbindungen der Tscherkessen-Thematik zur anderen Völkermorden bis hin zum Holocaust-Thematik erkent. Auf linker Seite dagegen stellt das Thema ein Ärgernis dar, weil man sich den (post-)kolonialen Charakter Rußlands, die Gewaltverbrechen des Zarenreiches und der Sowjetunion wie auch das aktuelle Wiederaufleben imperialer Traditionen nicht eingestehen will bzw. gar nicht erst zwischen verschiedenen Epochen zu trennen weiß und Rußland ganz grundsätzlich als das Reich der Guten verstanden wissen will. Putin führt  beides zusammen: linker und rechter Rand werden sich in Bezug auf seine Person einig. Schnittmenge ist die Geringschätzung demokratischer Strukturen und Menschenrechte als auch über die Faszination des starken Mannes, der mit symbolträchtigen Gesten und demagogischen Methoden so schön kräftig auf den Putz haut und eine Projektionsfläche für unzufriedene Westler bietet, einen ressentimentbeladenen, kleinbürgerlichen Eskapismus offeriert.

Bevor ich mich der Briefaktion selbst zuwende, soll es hier in meinem ersten Post um die Person von Jochen Scholz gehen, den Urheber der Briefaktion, wie auch um seine politischen Hintergründe und Netzwerke.

Jochen Scholz und seine Rolle in Elässers "Volksfront"-Initiative:

Scholz ist ein langjähriger Bundeswehr-Offizier, der in verschiedenen NATO-Gremien und im Bundesministerium der Verteidigung tätig war. Scholz hatte laut Spiegel aus seiner Gegnerschaft zum Kosovo-Krieg heraus im Jahr 1999 Kontakt zur PDS aufgenommen, sich dabei aber nicht grundsätzlich von NATO und Bundeswehr distanziert (Zitat Spiegel: "Wenn es 40 Jahre nicht gebrannt hat, kündige ich ja auch keine Feuerversicherung."). Ungeachter seiner fortdauernden Militär-Affinität habe man, so der Spiegel, im Jahr 2000 sogar erwogen, ihn zum Referenten der PDS für Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen. Wenn sich dies auch nicht realisierte, so wurde Scholz (laut eigener Darstellung im Jahr 2002) doch zumindest formal Mitglied bei der Linken/PDS. Scholz arbeitete mit WASG und Rosa-Luxemburg-Stifung zusammen und wird als Referent in linken friedenspolitischen Kreisen herumgereicht. So ist er beispielsweise am 9. Mai 2009 anläßlich der Bundesversammlung der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik zusammen mit Bernd Riexinger, Anette Groth, Claudia Haydt und Tobias Pflüger als Redner aufgetreten.

Zu diesem Zeitpunkt war Scholz jedoch bereits Teil der "Volksfront"-Bewegung Jürgen Elsässers, an deren Gründungsveranstaltung er am 10.1.2009 mitwirkte.  Auch beim "Volksfront"-Treffen am 5.9.2009 war Scholz als Redner beteiligt - Seite an Seite mit Querfront-Strategen und rechten Esoterikern, die die Welt von obskuren Kräften, darunter gerne "das Finanzkapital" oder ausländische Geheimdienste, gesteuert glauben. (Hauptquellen zu diesen beiden Veranstaltungen:  Jungle World und scharf links / zu den Mitschnitten der Gründungsveranstaltung auf youtube habe ich aufgrund der türkischen Netzsperre momentan leider keinen Zugriff) Unter den Mit-Rednern war u.a. Frank Höfer, Betreiber des verschwörungstheoretischen Portals Nuoviso.TV, das Jochen Scholz in der Folge mehrfach eine Plattform geboten hat. Scholz hat sich zudem als Autor an dem von Jürgen Elsässer herausgegebenen Band "Gegen Finanzdiktatur" beteiligt, der in der Compact-Reihe im (antisemitisch geprägten) Kai Homilius Verlag erschienen ist und den Anspruch erhebt, "wichtige Grundlagentexte und Strategiepapiere der Volksinitiative" zu versammeln. Er ist also in Elsässers Querfront-Initiative keine ganz unbedeutende Figur.

Jochen Scholz hat sich hiermit selbst in ein durch und durch unseriöses politisches Umfeld begeben, seine Beiträge werden herumgereicht von rechten Esoterikern, Chemtrail-Anhängern, der faschistoiden Truther/Infokrieger-Bewegung und Reichsbürgern. Mittels seiner aktuellen Briefaktion hat er nun auch bei den Rezipienten der "Stimme Rußlands" und ihren Schwestermedien Gehör gefunden. Interessanterweise hatte sich der TAZ-Redakteur Helmut Höge bereits von der Gründungsveranstaltung der "Volksfront" an "eine Verbindung zwischen Nationalismus und Bolschewismus" erinnert gefühlt und auch die Antifa-Seite "Analyse, Kritik, Aktion" hatte in Bezug auf Elsässer vor "Nationalbolschewismus" gewarnt:

 "Was El­säs­ser in Deutsch­land zu­neh­mend pe­ne­trant ver­sucht um­zu­set­zen, hat Alex­an­der Dugin im post­so­wje­ti­schen Russ­land längst ge­schafft. Seine na­tio­nal­bol­sche­wis­ti­schen und neo­eu­ra­si­schen Theo­ri­en be­stim­men seit den 90i­ger Jah­ren den dis­si­den­ten und auch den staat­li­chen Dis­kurs. Hier­bei ver­mi­schen sich or­tho­dox im­pe­ria­le Vor­stel­lun­gen von Mos­kau als dem Drit­ten Rom, bol­sche­wis­ti­sche Al­lein­ver­tre­tungs­an­sprü­che nach Innen und kul­tur­po­li­ti­sche In­ter­ven­tio­nen in die Ge­gen­kul­tur, aber auch die eta­blier­ten Me­di­en."

Jochen Scholz, anscheinend immer noch Mitglied der Linkspartei, scheint diese explosive Verquickung nun mittels seines Putin-Briefes auch auf internationaler Bühne vorantreiben zu wollen. Es wächst zusammen, was zusammen gehört.

Die geopolitischen Ambitionen von Scholz - "Projekt für das Neue Europäisches Jahrhundert"

Scholz hat nebeneinanderher 3 Strategiepapiere geschrieben, mittels derer er seine Gedanken über eine "Neue Weltordnung" entwickelt: das erste für die WASG, das zweite für eine Publikation der Rosa-Luxemburg-Stifung unter dem Titel "Internationale Politik im 21. Jahrhundert" und das dritte dann offenbar parallel dazu in Eigenregie bw. unter Einfluß einer rechten Psychosekte. Auffällig ist hier ein Oszillieren zwischen einer friedenspolitischen Kritik an Geostrategie und der Forderung nach einer eigenen deutschen geopolitischen Linie. Hatte Scholz sein  WASG-Strategiepapier als Unterfangen ausgegeben, das es der "konsequent für Frieden" stehenden Partei erlaube, die Motive und Strategien des Gegners zu verstehen, um darauf aufbauend "argumentativ und konzeptionell überzeugen" zu können, so geht es in den in Folge publizierten Papieren um anderes. Seine Argumentation ist hier weitaus flacher, einseitiger und militaristischer und geht mehr oder weniger nahtlos von Kritik an der "Neuen Weltordnung" zur Formulierung eigener geopolitischer Ansprüche und halbgaren Träumen von einem zu neuer Größe erweckten Europa/Deutschland über. Mitunter schlägt sogar eine Anlehnung an Alexander Dugins Konzept einer Eurasischen Gemeinschaft durch, das für Putin - neuerdings auch in den Ländern der EU - ein wesentliches Werbevehikel darstellt.

a) Sein WASG-Strategiepapier unter dem Titel "Internationale Zusammenarbeit, Frieden und Abrüstung, deutsche Politik für Europa" (publiziert am 16.9.2005 auf "Studien von Zeitfragen")  kann noch am ehesten als friedenspolitische Positionierung durchgehen, auch wenn hier einiges nicht recht in den Rahmen paßt. Positiv zu werden ist, daß die historische Rolle Deutschlands zumindest ansatzweise noch kritisch beleuchtet und daraus eine politische Verantwortung abgeleitet wird: "Die besondere historische, aber auch ökonomische/politische Position Deutschlands weist unserem Land und seiner Politik für den künftigen Kurs der EU eine besondere Verantwortung zu. Ihn zu gestalten und dabei einen friedlichen und gerechten Weg zu wählen, wird die schwere und historisch gebotene Aufgabe mindestens des kommenden Jahrzehnts sein". Die zunehmende Ausrichtung der deutschen Außenpolitik  auf militärische Interessensdurchsetzung seit den 1990ern bezeichnet er dementsprechend als "historischen Rückschritt".

Als Ziele werden u.a. die Auflösung der Blockkonfrontation und "das Verhindern neuer Rivalitäten zwischen neuen Machtzentren" formuliert. Scholz fordert, "Bedrohungsanalysen und -szenarien nüchtern gegen die tatsächlichen Bedrohungen abzuwägen und das Hauptaugenmerk auf Grundgüter [...] zu richten" und der Erosion des Völkerrechts entgegenzuwirken."Für dieses Kontrastprogramm", so Scholz im WASG-Papier, müßten "auch die USA gewonnen werden". Das klingt ausgleichend und versöhnlich, jedoch zeugt der Untertitel "Ein geostrategisches Konzept für die WASG" bereits von einer in verschiedene Richtungen wendbaren politischen Ambivalenz und ist die Betonung des "Außenpolitik ist Interessenpolitik" zumindest tendentiell widersprüchlich zu seiner Forderung nach einer Politik des solidarischen Ausgleichs und einer friedlichen und sozialen Welt: "Europäische Wirtschaftspolitik darf sich nicht allein an den kurzfristigen Interessen der Europäer orientieren, sondern muss sich in den oben ausgeführten Kontext einer friedlichen und sozialen Welt integrieren." Gleichermaßen wird offen gelassen, was konkret "deutsche Politik für Europa" bezeichnen soll. Stark populistisch vereinfachend  ist seine Behauptung, das "Dollarsystem" stelle " die Hauptursache für bestehende und künftige kriegerische Konflikte" dar.

b) In der nachfolgenden Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, datiert auf Oktober 2008, klingt Scholz, der darin mit dem Aufsatz "Die wichtigsten Konflikte in den nächsten Jahren: in Eurasien" vertreten ist, schon weitaus schriller und polarisierender. So gestattet er sich selbst eben mal, den militärischen Terminus der "full spectrum dominance" zum "Synonym für den Anspruch der USA, kulturell, rechtlich, diplomatisch, ökonomisch und finanzpolitisch, militärisch, gesellschaftlich und moralisch der Welt den Takt vorzugeben" auszuweiten (S.20) und fokussiert damit auf die USA als Ursprung allen Übels. Aus meiner Sicht liegt hier ein recht platter, geschichtsverdrehender Antiamerikanismus vor, der sämtliche globale Probleme am politischen Streben der USA festmacht: "Ich gehe davon aus, dass das Streben der USA nach Konservierung und Erweiterung ihrer machtpolitischen Stellung die Hauptursache für die wichtigsten Konflikte in der Welt ist, die sich mit Schwerpunkt in Eurasien abspielen." (S. 23). Scholz projiziert diese seine Analyse sogar auf das gesamte 20. Jahrhundert zurück und behauptet, "dass die USA, vereinfacht ausgedrückt, zwei Weltkriege und den Kalten Krieg geführt haben, um die Weltstellung zu erreichen, die sie jetzt inne haben" (S.22), seine Argumentation ist damit geeignet, Deutschland von jeglicher historischer Schuld und Verantwortung freizusprechen.

Die hier von Scholz formulierte Strategie sieht denn auch nicht mehr vor, die USA für eine neue Weltordnung zu gewinnen, sondern "den USA die Fähigkeit zur Machtprojektion so zu beschneiden, dass ingesamt für alle Staaten eine Win-Win-Situation entsteht" (S. 24). Wurde zuvor noch eingeräumt, daß "die deutsche Exportwirtschaft und deutsche Großbanken" in Hinblick auf eine auf den Dollar ausgerichtete Weltwirtschaft  "Mitprofiteure" seien, so ist davon in der RLS-Publikation nicht mehr die Rede, hier erscheint der "Rest der Welt" einschließlich der EU als Opfer einer globalen US-Finanzpolitik (S. 24). Das europäische Militär werde, so suggeriert Scholz, bewußt kleingehalten:

"Die vergleichsweise kleinen „BattleGroups“ der EU (1 500 Soldaten) gestehen die USA den Europäern als Spiel- und Übungswiese zu." (S. 21). "

Nachdem die EU derzeit weitgehend unter Kuratell gestellt und in das geostrategische "New Game" eingebunden" sei, würden im Grunde sogar nur "noch zwei Staaten der Beherrschung Eurasiens" im Wege stehen: Rußland und China (S. 22). Wenig später nimmt er dann eine weitere geographische Verengung vor und behauptet, "dass sich die entscheidenden internationalen Konflikte in Eurasien abspielen werden und dabei Rußland das eigentliche Ziel der US-Politik in Eurasien ist" (S.22). Die hierfür ins Feld geführten Indizien belaufen sich im wesentlichen auf die Behauptung der putinschen NATO-Einkreisungsthese, die aktuell nun gerne auch in linken Kreisen zur Rechtfertigung der russischen Expansionspolitik angeführt wird und damit links und rechts hinter dem starken Mann in Moskau vereint. Zwar schlägt Scholz Maßnahmen vor, die die "Konfliktzone Eurasien" entschärfen sollen (S.25), jedoch liegt, gerade aufgrund seiner eindeutigeren Formulierungen imm "Offenen Brief an Putin" (insbesondere seine Bezugnahme auf die von Putin propagierte "Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok") der Schluß nahe, daß Scholz auch hier die Eurasien-Strategie eines Alexander Dugin mitverwurstet hat und sich von dieser inspirieren ließ. An Dugin erinnert nicht nur die Vorstellung von der Schaffung eines eurasischen Gegengewichtes zu Transatlantizismus bzw. das Wettern gegen "[d]ie politische Klasse in der EU mit ihren transatlantisch gewaschenen Hirnen" (S. 25)
sondern auch die geforderte Rückkehr zu nationalstaatlich ausgerichtetem Kapitalismus. Sollte Scholz hier seine Ausführungen noch nicht direkt unmittelbar von den Duginschen Thesen geformt worden zu sein, bestehen zumindest bereits Anknüpfungspunkte. 

c) Am deutlichsten bezüglich des Wunsches nach einer aktiven weltpolitischen Rolle Deutschlands/ der EU wird Scholz jedoch in seinem "Projekt für das Neue Europäische Jahrhundert" das, wie bereits durch den Titel ausgedrückt, an den neokonservativen amerikanischen Think Tank "Project for the New American Century" angelehnt ist und sich auch explizit als europäischer Gegenentwurf hierzu versteht (ungeachtet der Tatsache, daß das amerikanische Original bereits im Jahr 2006 zu existieren aufgehört hatte). Publiziert wurde es (laut Online-Portal tlaxcala) ursprünglich am 8. September 2008 auf Zeit-Fragen, wo es allerdings zur Zeit nicht abrufbar ist. Gedacht gewesen sei es als  "ein echtes programmatisches Manifest", das zunächst auf der von selbigem Internet-Magazin veranstalteten Konferenz namens "Mut zur Ethik" des Jahres 2008 vorgetragen worden sei. Eventell von Interesse in diesem Zusammenhang: auch an "Mut zur Ethik" des Jahres 2010 hat Scholz im Gespann mit Jürgen Elsässer als Redner teilgenommen, die Beziehungen zu Zeit-Fragen weisen also eine gewisse Konstanz auf.

Das Magazin "Zeit-Fragen" wird als rechtslastig und verschwörungstheoretisch eingestuft und steht mit der VPM-Sekte ("Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis") in Verbindung. Laut der Rechtsextremismus-Forscher Martin Dietzsch und Anton Maegerle fallen VPM/"Mut zur Ethik" unter "Politisierende Psycho-Sekten", die entweder selbst rechtsextrem sind oder rechtsextremen Positionen zuarbeiten. Vordergründig trat VPM für einen gewaltfreien zwischenmenschlichen Umgang ein und machte sich friedenspolitische Positionen zu eigen (siehe Webseite von "Mut zur Ethik").  Formal ist VPM nun aufgelöst, die Tätigkeit der Europäischen Arbeitsgemeinschaft "Mut zur Ethik" reicht bis ins Jahr 2010, das Magazin Zeit-Fragen läuft weiter und es wird vermutet, daß frühere VPM-Anhänger sich nun in anderer Form organisieren (Überblick hierzu bei wikipedia).

Nun aber zum Inhalt des "Projektes": Scholz, der die Bundesrepublik hier seit 1990 unter einer "historisch einmaligen Dominanz der USA als einziger Supermacht" wähnt, fordert Deutschland dazu auf, die Politik aus der Zeit der "Unterordnung während des Systemkonfliktes" aufzugeben und eigene Interessen zu formulieren. Bereits der Einleitungssatz lautet trotzig-selbstbewußt: "Als Staat «Interessen» zu haben gilt in der deutschen Bevölkerung vielfach noch immer als unanständig, obwohl durchaus gesehen wird, dass Deutschland Objekt der Interessenlage anderer ist." Gemeint ist, das Deutschland sich von seiner angeblichen "Überidentifikation" mit der US-Politik emanzipieren nunmehr eigenständiger geopolitischer Player auftreten solle. Scholz hat sich hiermit von seiner WASG-Position (" Damit wird die weltweite Anerkennung verspielt, die sich Deutschland durch die machtpolitische Zurückhaltung seit der großen Koalition erworben hatte) deutlich entfernt und klingt sehr viel mehr nach neudeutschem Militärstrategen denn nach einem auf Ausgleich und Verständigung bedachten Pazifisten, auch wenn sein Projekt insgesamt heterogen und stellenweise widersprüchlich bleibt.

In der Geschichtsinterpretation von Scholz erscheint die Politik des Ausgleichs mit den osteuropäischen Nachbarn und damit das Ende der Blockkonfrontation als verzweifelter Versuch, sich von der transatlantischen Bevormundung zu befreien - das Unterfangen schlägt fehl und führt zu einem umso festeren Klammergriff der USA. Die alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens umfassenden Vormachtpläne der USA werde hier nun nicht mehr als persönliche interpretative Erweiterung, sondern als faktisch gegeben behauptet (wenn auch unter erheblicher Strapazierung und Dehnung der angegebenen "Belege"). In einer über mehrere Paragraphen reichenden holzschnittartigen Schilderung prangert Scholz mittels bunt zusammengewürfelter Quellen ( von Manager-Literatur und "Studien für Zeitfragen" über Verweise auf William F. Engdahl und Jürgen Elsässer bis hin zum rechtsesoterischen Kopp-Verlag) und einigermaßen beliebig und unmotiviert herausgegriffener Beispiele und Gewährsmänner die Strategie des "America First" samt den "zynischen Handlungsanweisungen" der USA an, wobei er sich nicht die geringste Mühe gibt, zwischen verschiedenen politischen Akteuren und Akteursgruppen zu differenzieren. Behauptet wird eine mehr oder weniger einheitliche "Überparteiliche US-Interessenlage", die auch Präsidentschaftswechsel überdaure. Die deutschen "Durschnittsbürger" würden, so Scholz, von den "Mainstream-Medien" über diese Sachlage weitgehend in Unkenntnis gelassen.

In diesen Zusammenhang wird auch die - im Vergleich zum RLS-Text noch platter vorgetragene - Behauptung gestellt, Amerika habe "zwei Weltkriege geführt, um eurasische Macht zu werden, die auf diesem Kontinent den Ton angibt". Auch in Bezug auf die deutsche Gegenwart ist eine derartig verzerrende Sichweise bemerkenswert, ist es doch gerade die Krise in der Ukraine, die rechtskonservativen deutschen Eliten erneut Anlaß zu Rufen nach "Deutscher Führung" und "Hauptrolle in Europa" gibt. Daß Scholz an späterer Stelle in Bezug auf einen Interessensausgleich zwischen Deutschland und den anderen EU-Staaten etwas verklausuliert rügt, daß die Nachfolger Kohls "für Deutschland eine Normalität, die sich angesichts seiner Geschichte im 20. Jahrhundert verbieten sollte" reklamieren, hebelt diese Argumentationsmuster nicht aus, ist vielmehr ein recht typisches Beispiel für das Oszillieren des Textes zwischen traditionell linken und rechten Positionen bzw. deren Vermischung.

 Scholz geht es in seinen Klagen über US-Hegemonie nicht nur um Militär und Politik, sondern in nicht unbedeutendem Maße auch um Wirtschaftskonkurrenz, er suggeriert, der "ökonomische Riese" Bundesrepublik sei sich seiner tatsächlichen Stärke gar nicht bewußt, verharre "in einem Zustand des Reagierens", während sich US-Unternehmen besser auf die neue Weltordnung eingestellt hätten und dort gelte, daß "die Politik die Wege ebnet, ggf. mit Brachialgewalt". Transnationale Akteure, deren Loyalitäten nicht bei Nationalstaaten liegen sondern zusammen mit anderen Akteuren ein Interessens- und Handlungsgeflecht bilden, scheinen im kruden Weltbild von Scholz keinen Platz zu haben. Das "Dollarsystem" tritt vielmehr als Zwillingsproblem neben "die militärische Suprematie der USA". Offenbar hält Scholz seine diesbezüglichen Einsichten sogar für so bahnbrechend und tendentiell von weltpolitischer Bedeutung, daß er seinen Text  von vornherein an den Bundesverband der Deutschen Industrie als Hauptadressaten richtete. Es findet sich demnach einerseits viel ressentimentbeladene Kritik an einem offenbar als Fremdkörper empfundenen internationalen Finanzwesen, andererseits aber keine auch nur einigermaßen konsistente und durchgängige linke Kritik an neoliberalen Wirtschaftsweisen und -strukturen jenseits einer Personifizierung durch die USA.

Hier berühren sich die Ansichten von Scholz denn auch mit denen eines Lars Märholz, wenngleich letzterer den vermeintlichen historischen Zusammenhängen zwischen Weltkriegen und amerikanischer Finanzpolitik deutlicheren Ausdruck verleiht. Jutta Ditfurth , die allerdings selbst auf ihrer facebook-Seite diejenigen, die Kritik an Putins Vorgehen und russischem Faschismus tätigen, zensiert und hinauswirft und somit aus meiner Sicht ebenfalls nicht ausgeglichen kritisiert, dekonstruiert die antisemitischen Vorstellungswelten eines Mährholz wie folgt:

"Nicht Nazi-Deutschland ist schuld an der Ermordung von 6 Millionen jüdischen Menschen und am Zweiten Weltkrieg in dem mehr als 50 Millionen Menschen starben, sondern eine US-amerikanische Bank. Auf dem Hintergrund der antisemitischen Konstruktion einer jüdischen Weltverschwörung bedeutet das: Die Juden selbst sind in Wirklichkeit die Mörder von Millionen Juden."

Auch läßt sich bei Scholz eine gewisse Affinität zu den antisemitischen Argumentationsfiguren der verkürzten Finanzkritik eines Ken Jebsen erkennen.

Der Ausstieg aus dem "Dollarsystem", so Scholz, könne nur mittels neuer strategischer Bündnisse gelingen, denn für sich alleine genommen sei Europa nicht stark genug:

"Die USA werden ohne Not nicht bereit sein, sich auf einen mulilateralen Ansatz einzulassen, solange sie vom Ist-Zustand den Rahm abschöpfen können, ihre Position der Stärke weit überschätzen und ihnen die Unkosten zum grossen Teil vom Rest der Welt erstattet werden. Andererseits können die anstehenden Probleme nicht ohne Amerika gelöst werden. Folglich muss Europa Verbündete finden, um die Vereinigten Staaten zur Einsicht zu bringen." 

Ein Konsens wird letzendlich jedoch nicht mehr mit den USA, sondern "ausserhalb der USA" angestrebt. Vereint mit China und Rußland könne Europa die Transformation zu einer neuen Weltordnung anstoßen:
"Europa ist stark genug, um über eine wirtschaftlich-strategische Verbindung mit Asien und Russland die Verantwortung für eine gerechtere und fairere Weltwirtschaftsordnung zu übernehmen." Letztendlich wird hier trotz kursorischer Verweise auf eine "fairere Weltwirtschaftsordnung", auf Lateinamerika und Afrika, auf recht ethnozentrisch-überheblich anmutende Weise von der "globalen Rolle" Europas als quasi natürlich gegebenem Umstand ausgegangen.

 Nimmt man die hier besprochenen drei Papiere zusammen, entsteht der Eindruck, daß es Scholz - wenn denn überhaupt - weniger um eine prinzipielle Gegnerschaft zu Geostrategie, Machtpolitik und militärischer Interessensdurchsetzung gehen könnte, denn um ein Wiedererstarken Deutschlands durch einen strategischen Schulterschluß mit Rußland (und in zweiter Reihe mit China), er sein Anliegen dann aber je nach Publikationsorgan mehr oder weniger linksideologisch verpackt. Kurz, seine sowieso schon flache Systemkritik scheint partiell oder ganz vorgeschoben, um neoimperiales Konkurrenzgehabe Deutschlands/ der EU und einen neudeutschen Neidkomplex in Bezug auf internationale Machtspiele auf einen gesellschaftlich und politisch anschlußfähigeren Nenner zu bringen und dabei auch antisemitische Klischees zu bedienen.

Was war zuerst da?

Berücksichtigt man, daß sich unter www.medienanalyse-international.de ein Text findet, der den Titel "Projekt für ein neues europäisches Jahrhundert" trägt und, abgesehen von den weniger umfänglich ausfallenden Quellenangaben, weitgehend inhaltsgleich mit Scholz' VPM/Zeit-Fragen-Papier ist, dieses dort auf März 2004 datiert ist und damit noch vor dem WASG-Papier entstanden sein könnte, so wird wahrscheinlicher, daß Scholz von Anfang an mehrgleisig vorgegangen ist und die politische Ausrichtung seiner "Analysen" auf strategische Weise seinen jeweiligen Auftragsgebern angepaßt hat. Die redaktionelle Einleitung des Textes auf www.medienanalyse-international.de spräche dafür: "Erwarten Sie ein Konsensangebot, das in strategische Abteilungen deutscher Konzerne gerichtet ist. Die Zahl linker identitätsstiftender Verbalradikalismen wie "imperialistisch", "Kampf dem xy" usw. ist limitiert." Demzufolge könnte es sich beim Unterfangen von Scholz von Anfang an um ein Querfront-Projekt gehandelt haben, weit vor Elsässers "Volksfront"-Initiative.

Einmal vorausgesetzt, man sei bereit, die deklarierten linken Positionen ernstzunehmen, so müßte doch sehr irritieren, daß Linkspartei und Rosa-Luxemburg-Stiftung wie auch diverse friedenspolitische Organisationen ungeachtet der Texte von Scholz und ungeachtet von dessen rechtsesoterischen Umtrieben über Jahre hinweg mit ihm als "Friedensreferenten" zusammengearbeitet haben und sich von linker und friedenspolitischer Seite bis heute keine offizielle Distanzierung finden läßt.

Sogar in jüngster Zeit ist Scholz noch bei Veranstaltungen der Linken aufgetreten, so etwa im Rahmen der Berliner "Inselgespräche" im September 2013, und zwar zum Thema "Das Mittelmeer, ein US-amerikanisches Binnenmeer? Bietet das Buch "Showdown" von Dirk Müller die passende Analyse?" Zumindest Mitreferent Andreas Schlüter, ebenfalls Mitglied von Die Linke, scheint diese Frage positiv beantwortet zu haben: Auf Schlüters Blog wird Müller dafür gelobt, daß er "die Doppelmoral im Verhalten westlicher Staaten" in seinem  "neuen, überaus zu empfehlenden Buch "Showdown" überzeugend darlegt" - nach einem kursorischen Verweis auf Griechenland erfolgt dann auf dem Fuße eine augenfällig plazierte Kritik an Israel. Vom Spiegel wird "Showdown" dagegen als "nur so vor abenteuerlichen Verschwörungstheorien" strotzend beschrieben. Daß Börsenguru Dirk Müller, alias Mr. Dax, ungeachtet oder vielleicht auch gerade wegen seiner antisemitisch anklingenden Fixierung auf "Zinseszins"-Kritik in linken Kreisen eine gewisse Wertschätzung erfährt, habe ich auch selbst im im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise in Diskussionen auf diversen linken Facebook-Seiten erfahren müssen, wo er zusammen mit Jebsen als kompetente "Gegenöffentlichkeit" angepriesen wurde. Die gemeinsame Veranstaltung mit Schlüter zeigt: Scholz ist in der Linkspartei mit seinen Vorlieben für antisemitische Querfront-Projekte im Umfeld von Elsässer und Jebsen keineswegs alleine.

Auf große Resonanz sind die geopolitischen Projekte von Scholz in Wirtschaft und Politik bisher wohl nicht gestoßen. So, wie Scholz hier seine recht disparate Lektüre mit politischen Platitüden und Halbwahrheiten zu einem unausgegorenen Konglomerat zusammenschraubt, wirken die Texte eher tragikomisch-unbeholfen. Man kann durchaus zu dem Schluß gelangen, daß sich Scholz hier intellektuell völlig übernommen hat. Insbesondere sein Zeit-Fragen-Text ist ähnlich nervtötend wie die Reden von Jebsen oder Müller. Alle drei haben etwas von einem Zauberer, der ein mit wichtiger Miene das bekannte weiße Karnickel aus dem Hut zaubert und aus Gewohnheit darauf zählt, daß das Publikum begeistert klatscht. Altbekannte Klischees und Platitüden werden hervorgezerrt und neu kombiniert, um dann wie ein Kaugummi ausgelutscht, in die Länge gezogen und breit und breiter getreten zu werden - so lange, bis auch der letzte Zuhörer verstanden hat, daß es hier um tiefschürfende Einsichten in das geht, was uns "die Massenmedien" verschweigen möchten.

Beunruhigend trotz dieser intellektuellen Simplizität und der Floskelhaftigkeit des Vorgebrachten ist der weitere Diskurszusammenhang, der sich hier entspinnt und nun eine Fangemeinschaft entstehen läßt. Er führt linke Befindlichkeiten und Loyalitäten aus der Zeit des Kalten Krieges (Stichwort sowjetischer "Friedenskampf") und entsprechende propagandistische Verblendung mit neurechten Themen und ähnlich geschlossenen Weltbildern zusammen. Die Taschenspielerei, mittels derer pazifistische Positionen unbemerkt ausgetauscht werden mit einem Projekt, das nur oberflächlich "Frieden" fördert und in Wirklichkeit politischen Lagern bzw. Lagerbildung als solcher zuarbeitet, könnte zu einem echten gesellschaftspolitischen Problem werden. Gleichzeitig werden die Chancen auf einen kritischen Dialog reduziert: das flache, stark vereinfachte Weltbild und die demagogisch überspitzten Darstellungsweisen der Querfront-Friedenskämpfer provozieren förmlich ein argumentatives Dagegenhalten. In einem Weltbild, das nur zwei gegensätzliche Positionen (ob nun USA und Eurasien, die "Herrscher" und "das Volk", Wir und die Anderen oder Gut und Böse) kennt, wird Widerspruch jedoch automatisch wieder als Bestätigung für die Richtigkeit der eigenen Ansichten gewertet. Wer Putin nicht liebt, der verehrt Obama, wer Antisemitismus thematisiert, muß Antideutscher sein, wer von Tschetschenen spricht, mag keine Palästinenser, wer Ukrainern zuhören möchte, ist Faschist. Wer kritisiert, muß auf der Gegenseite stehen, ist von den "Mainstream-Medien" manipuliert, ein bezahlter Agent....

Mit friedenspolitischen Positionen im eigentlichen Sinne, d.h. einem Hinarbeiten auf Verständigung und Ausgleich, hat diese Haltung nicht das Geringste zu tun, ihr Effekt ist der einer Verunsachlichung und letzendlich Torpedierung des politischen Gesprächsklimas. Von den eigentlichen Problemen lenkt sie ab, indem sie zwei spiegelbildlich konstruierte Lager gegeneinander antreten läßt und die Unmöglichkeit von Standpunkten jenseits der von ihr vorangetriebenen Polarisierung behauptet. Der Putin-Brief, obwohl als politische Initiative recht unbedeutend (das in ähnlichem Umfeld beheimatete Medienportal 0815-info.de beschwert sich über das "Schweigen" der deutschen Medien, das geradezu nach "Gegenöffentlichkeit" schreien würde), zeigt, wie weit dieser Prozeß schon gediehen ist.


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