Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

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Sonntag, 30. November 2014

Daniele Ganser und sein Umfeld III: Offene(s) Fragen zu 9/11?


Vorangegangene Posts zu Daniele Ganser und seinem Umfeld von Irma Kreiten:
I Anti-Fracking und die Instrumentalisierung von Gegenöffentlichkeit (Einleitung) 
II ASPO Schweiz, VPM und We are change

Einleitung:


                                                                          
Gerne stellt sich Daniele Ganser als mutigen Aufklärer dar, der politische Tabus duchbricht und Themen in Angriff nimmt, die bisher von der Forschung vernachlässigt wurden. So schilderte Ganser in einem Vortrag (mittlerweile u.a. von Antikrieg-TV auf youtube zugänglich gemacht) auf der IALANA-Tagung "Quo Vadis Nato? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" (26.-28.4.2013 in Bremen), wie er anläßlich des 10. Jahrestages der Terroranschläge vom 11. September 2001 von amerikanischen Akademikern gebeten worden sei, aus europäischer Sicht zu Staatsterrorismus zu referieren. Die per Videoaufzeichnung festgehaltene öffentliche Vorlesung habe ihm anschließen großen Ärger von Seiten der Universitätsleitung eingebracht:


"Und nur drei Tage später habe ich vom Rektor der Universität Basel so einen richtigen geharnischten Brief erhalten der so in etwa sagte: "Halten Sie die Klappe". Und Sie machen sich einfach keine Vorstellungen wenn Sie glauben, die Forschungsfreiheit ist garantiert. Das ist sie nicht. Wenn Sie in diesen Themen arbeiten dann müssen Sie wirklich ein Modell haben, wie Sie sich finanzieren wenn die Uni Sie entläßt. Das ist die Sache. Weil die Forscher sind ja auch nicht einfach vollkommen frei sondern sie wollen ihren guten Ruf und ihr Einkommen nicht aufs Spiel setzen. Und darum habe ich dann ein eigenes Institut gegründet, das heißt Swiss Institute for Peace and Energy Research und ich finanziere mich jetzt über Vorträge. Aber der Vorteil ist, ich bin vollkommen frei. Ich bin immer noch an der Uni, aber wenn mich die Uni entläßt, ist mir egal. Und das ist schon ein großer Unterschied, müssen Sie wissen. [...] An einem Punkt habe ich meiner Frau gesagt, hör zu, ich verdiene hier an der ETH 10 000 Schweizer Franken pro Monat, ich habe aber Dinge herausgefunden, die sind bestürzend ja, wenn ich das nach draußen trage, dann fliege ich vielleicht von der Uni, dann haben wir das Geld nicht mehr, dann müssen wir vielleicht ausziehen, etcetera. Ich habe gesagt: Soll ich da weitermachen? [...] Meine Frau hat gesagt: Auf jeden Fall mußt Du weitermachen, sonst, wenn Du Dich jetzt verbiegst, bekommst Du das das Leben lang nicht mehr gerade hin. Und sie hat nur gefragt: Bist Du denn sicher bei den Daten? Da habe ich gesagt: Ja bei den Daten bin ich vollkommen sicher. Habe ich sie dann gefragt: Bist Du sicher mit dem Ausziehen? Ja, da hat sie gesagt: Ja, wir schlagen uns sicher durch. Und das ist einfach der Hintergrund den man wissen muß, die Friedensforschung ist heute existentiell gefordert. Das ist nicht etwas, was man so ein bißchen nebenbei machen kann."


Ich finde diese Passage u.a. deswegen erhellend, weil sie gleichsam einen Gründungsmythos zu SIPER liefert, dem von Daniele Ganser im Jahre 2011 ins Leben gerufenen "Institut für Friedens- und Energieforschung". Ganser drückt in diesem Vortragssegment seine Bereitschaft aus, der Forschungsfreiheit und "Wahrheit" zuliebe volles Risiko zu fahren, sich gegen das akademische Establishment zu stemmen und explizit auch eine mögliche Beeinträchtigung seiner eigenen Karriere und seines wissenschaftlichen Rufs in Kauf zu nehmen. Man bekommt hier vermittelt, Ganser habe SIPER in Reaktion auf Zensur- und Repressionsversuche gegründet und ihm sei es durch diesen beherzten und tatkräftigen Schritt in die Selbständigkeit gelungen, quasi auf der Stelle eine vollkommene wissenschaftliche Unabhängigkeit zu erzeugen. 

In einem Interview mit der Tageswoche unter dem Titel "Forschen in der Tabuzone" vom August 2012 wurde von Ganser ebenfalls das Thema "Wissenschsaftsfreiheit" angerissen:

"Der 11. September ist eine Tabuzone, bis heute. [...] Ich bekam immer wieder Hinweise. Pass auf, für dich, für die Schweiz, ­halte den Mund. Es gibt offene Fragen zu 9/11, aber die sollte man besser nicht ansprechen, das gibt Ärger mit den USA oder auch Ärger in der Universität."

Nach "Tabuzonen in der historischen Forschung" gefragt sowie danach, ob es trotz allem richtig gewesen sei, 9/11 zu thematisieren, antwortet er:
"Ja. Man muss sich selber treu bleiben. Als Experte kenne ich die Forschungslage und die offenen Fragen sehr genau. Ich bin weiterhin der Meinung, der Einsturz von WTC7 muss geklärt werden. Es ist wichtig, dass man die Dinge anspricht und sie untersucht. Nicht mit dem Anspruch, ich habe recht und alle anderen liegen falsch. Sondern mit dem Anspruch: Man muss doch untersuchen dürfen, ob eine Regierung in einen Terroranschlag verwickelt war oder nicht
[Frage ...]
Forschung muss frei sein. Die Wissenschaft hat eine vermittelnde Funktion. Sie muss etwa im Fall 9/11 sagen: Es gibt drei Theorien, wir wissen nicht, welche stimmt, aber der Verfechter ­jeder Theorie soll seine Daten bringen, dann vergleichen wir. Das ist der ehrlichste und beste Ansatz. Es kann nicht sein, dass man uns verbietet, diese Theorien zu diskutieren. Einmal intervenierte sogar die US-Botschaft in der Schweiz und erklärte, ich und Professor Albert Stahel, der 9/11 auch hinterfragte, dürften die offizielle Version der Bush-Administration nicht anzweifeln. Aber so geht das nicht. Auch beim Irakkrieg und beim Syrienkrieg muss man offen und kritisch Fragen stellen können, sonst opfern wir die Freiheit der Forschung. Gerade die Bereiche Energie, Terror und Krieg sind sehr sensibel, denn es geht um Milliarden von Dollars und Tausende von Toten."
[Frage ...]
"Der einzelne Forscher kann das ändern, wenn er sagt: Ich lasse mich nicht einschränken, ich veröffentliche meine Forschungsresultate, auch wenn Druck auf mich ausgeübt wird. Aber es ist wirklich schwierig. Ich war gerade zum zweiten Mal Vater geworden, als ich am Punkt war, meine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Als Vater sucht man ein sicheres Einkommen und ist damit abhängig, zum Beispiel von der Uni, die den Lohn bezahlt. Oft will man die Stelle, den Lohn und die soziale Anerkennung nicht verlieren, und spricht darum nicht über Fragen wie das WTC7, weil sie nicht zum Mainstream-Bild passen und nur Ärger erzeugen. Der entscheidende Einfluss war meine Frau, die sagte: «Bleib bei der Wahrheit und den Resultaten, die du ­gefunden hast, wenn du jetzt aufgibst, hast du verloren.» Ich habe Kollegen, die sagen, sie werden zuerst ­Professor, legen die kritischen Daten in die Schublade, und mit Fünfzig oder Sechzig schreiben sie dann ein kritisches Buch. Das geht aber nicht. Dann hast du den Schwung nicht mehr."

Kann man von Daniele Ganser sagen, daß er "offen und kritisch Fragen stellen" würde? DieRepressionsversuche, denen Ganser ausgesetzt gewesen sein will, stehen - auch gemäß seiner eigenen Schilderungen - ganz im Zeichen seiner Beschäftigung mit 9/11. Hinweise darauf, daß er in seiner Forschung zu NATO-Geheimarmeen oder Peak Oil behindert worden wäre, finden sich nicht, die Rede ist vielmehr von recht großzügiger Unterstützung und einer weithin konstruktiven, positiven Haltung gegenüber seinen diesbezüglichen Studien (siehe hierzu auch meinen vorherigen post). Ganser betont, man dürfe und müsse als Historiker auch zu 9/11 kritische Fragen stellen.

Ich möchte mit diesem Post beleuchten, inwieweit sich Gansers Behauptung einer versuchten Zensur belegen läßt. Dieser Exkurs ist notwendig, da ansonsten Kritik an Ganser und seinen Netzwerken mißverstanden werden kann als Fortsetzung politischer Repressionsbestrebungen und sie zirkulären Argumentationsstrukturen Vorschub leisten kann, denen zufolge  Ganser Feindseligkeiten und Kritik auf sich ziehe, weil er unangenehme Wahrheiten ausspreche. Der gegenwärtige Post ist damit für mich im wesentlichen eine Pflichtübung, die dazu dient, derartigen Verschwörungstheorien den Boden zu entziehen, indem sie dem Thema "Verschwörungstheorie" nicht ausweicht, sondern es zu ihrem Zentrum macht. Die systematische Betrachtung von Gansers Querfront-Umtrieben wird in den Folgeposts fortgesetzt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal betonen, daß für mich Daniele Ganser als Person weitgehend unerheblich ist, es macht also keinen Sinn, mich mit Einwänden wie "wenn Sie ihn näher kennen würden, würden Sie anders über ihn denken" oder mit "Sie haben die Intention dieser Person völlig mißverstanden" anzuschreiben (offenbar ein Standard-Argument von Aluhütlern und Querfrontlern, wenn sie eine ihrer Koryphäen in Gefahr sehen). Mein Interesse gilt den Netzwerken, die sich über Gansers wissenschaftliche und  Aktivitäten aufzeigen lassen, wie auch, wie über dieses Querfrontstrukturen auf oftmals kaum merkliche Weise politische Subtexte transportieren lassen.

Thema dieses posts wird sein, inwiefern Ganser im Zusammenhang mit 9/11 tatsächlich seinem eigenen Anspruch, kritische Wissenschaft zu betreiben, gerecht wird und damit die Behauptung, in diesem Kontext würde repressiert und insbesondere er gehöre zu diesen zensurgefährdeten Wissenschaftlern, überhaupt glaubwürdig ist. Ich werde mich dazu mit dem Thema 9/11 auf einer möglichst formalen Ebene beschäftigen und mir ansehen, wie Ganser sich dieser Thematik methodisch nähert und ob seine Arbeitsweise und Argumentation in sich stimmig und wissenschaftlich schlüssig sind. Um es zugespitzt zu formulieren : Wissenschaft kann nur da unterdrückt werden, wo auch tatsächlich Forschung bzw. eine logisch strukturierte, seriöse Forschungsabsicht vorhanden ist. Anliegen dieses Postes ist damit nicht eine inhaltliche Auseinandersetzung mit 9/11-Theorien, Material zu den unterschiedlichen Standpunkten ist im Netz bereits reichlich vorhanden.

Die Entwicklung von Gansers Beschäftigung mit der 9/11-Thematik


Hinweise auf Daniele Gansers Entwicklungsweg in Bezug auf 9/11 finden sich auf der Schweizer Truther-Plattform "911 untersuchen", bei der er sich als deren Mitglied recht ausführlich präsentiert. Geschildert sind dort u.a. sein erwachendes Interesse an 9/11 sowie die Reaktionen seines Umfeldes hierauf:
"Ich beobachte die 911-Forschung seit dem Tag der Anschläge. Als Historiker und Friedensforscher habe ich 1998 im Rahmen meiner Dissertation damit begonnen, die NATO-Geheimarmeen, Operation Gladio und inszenierten Terror in Europa im Kalten Krieg zu untersuchen. Damals haben mir viele Experten von dieser Forschung abgeraten. Terror sei kein aktuelles Thema, niemand interessiere sich dafür. Andere Experten meinten, durch Geheimdienste und Spezialeinheiten inszenierter Terror sei ein viel zu heikles Thema, damit würde ich mir meine akademische Karriere ruinieren. Ich habe nicht auf die gut gemeinten Ratschläge gehört und vier Jahre an Universitäten im In- und Ausland geforscht. Just im September 2001 habe ich an der Universität Basel mein Doktorexamen im Bereich Zeitgeschichte mit dem Thema Geheimarmeen und inszenierter Terrorismus abgelegt.
Wenige Tage vor dem Examen sass ich vor dem Fernseher und habe mit Bestürzung die Anschläge mitverfolgt. Dass in demselben Monat, in welchem ich meine langjährige Forschung abschloss, der grösste Terroranschlag der Gegenwart stattfand, hat mich stark beeinflusst. Mein Forschungsthema war plötzlich sehr gefragt, die Dissertation zu den NATO-Geheimarmeen und inszeniertem Terror wurde in 10 Sprachen übersetzt (auf Deutsch bei Orell Füssli) und über 10’000 mal verkauft.
Vor allem aber wollten meine Studentinnen und Studenten unbedingt wissen, was denn meine Meinung zu 911 sei. Ich las viel und wartete, bis im Juli 2004 der 600 Seiten lange Kean-Report publiziert wurde.[...] 
Weil alle drei Theorien implizit von einer geheimen Absprache von zwei oder mehr Personen ausgehen, müssen alle drei als Verschwörungstheorien bezeichnet werden. Um die drei Theorien SURPRISE, LIHOP und MIHOP genauer zu beleuchten, führte ich im Sommersemester 2005 am Historischen Seminar der Universität Zürich ein Kolloquium zu 911 durch, im Sommersemester 2007 wiederholte ich das Kolloquium an der Universität Basel. Die Studentinnen und Studenten mussten sowohl den Kean-Report wie auch Bücher von Prof. David Ray Griffin studieren. [...]
Ich bin mir bewusst, dass ein Wissenschaftler ernsthafte Probleme bekommen kann, wenn er zu 911 forscht. Zum vierten Jahrestag der Anschläge habe ich trotzdem im September 2005 in Zürich eine Einladung zu einem öffentlichen Vortrag angenommen und die ungeklärten 911-Fragen inklusive WTC7 offen angesprochen. Ich war damals als Senior Researcher an der ETH-Forschungsstelle für Sicherheitspolitik angestellt und ein Bericht über meinen Vortrag erschien in der Hauszeitung ETH Life. Darauf kam es zu heftigen Reaktionen. Einige lobten meinen Mut, als ETH-Forscher heikle Fragen zu 911 zu stellen, während andere mich arg beschimpften und gar den guten Ruf der ETH Zürich gefährdet sahen. Als ich ein Jahr später zum fünften Jahrestag im September 2006 einen längeren Artikel zum ungeklärten Einsturz von WTC7 im Tages Anzeiger veröffentlichte, kam es erneut zu heftigen Reaktionen. Sogar die US-Botschaft in Bern protestierte und erklärte, es gehe nicht an, dass Schweizer Wissenschaftler die offizielle 911-Geschichte anzweifeln.
Der Druck ist gross, am einfachsten wäre es, zum Thema zu schweigen. Doch das darf für Historiker keine Option sein. Wir müssen über die Vergangenheit sprechen. Es gibt heute sehr viele Menschen, welche im vertraulichen Gespräch erklären, dass sie sehr darauf hoffen, dass eine differenzierte historische 911-Forschung zumindest in der Schweiz möglich ist."

Die zitierte Passage mag ein wenig lang sein, ist aber in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Zunächst zeigt sie, wie eng Gansers Karriere mit den Anschlägen des 11. Septembers verbunden war. Seine kurz zuvor fertiggestellte Dissertation erfuhr durch diesen historischen Zufall ungeahnte Popularität. Auch seine Abschlußprüfung für den Erwerb des Doktortitels ist dem Schweizer Historiker in Zusammenhang mit dem 11. September in Erinnerung geblieben. So schildert er im Interview mit der Baseler Zeitung vom 9.9.2006 unter dem Titel "Der Demokratie-Test schlechthin", wie er den Tag des Angriffs auf WTC und Pentagon verbrachte:
"Ich war hier in Basel, an der Dornacherstrasse im «Gundeli», und habe mich auf mein Doktorexamen an der Uni Basel vorbereitet – zum Thema inszenierter Terrorismus im Kalten Krieg. Natürlich habe ich mich gefragt, ob dies nun inszenierter Terrorismus sei oder realer. Wie alle schaute ich sehr viel fern. Eigentlich hatte ich erwartet, dass beim Examen, am 27. September eine Frage zu 9/11 käme. Aber es kam keine."

In Daniele Gansers Danksagung in seinem Buch "NATO's Secret Armies" heißt es zu dieser Verknüpfung von Zeitgeschichte und eigener Biographie (S. XV): 
"When I presented my Gladio research and passed my final PhD exams in September 2001, we all felt that it was a timely book, for in that month, investigations into international terrorism had become a high priority on the agenda."

Das Thema 9/11 dürfte damit für Ganser von Anfang an auch gewisse persönliche und sinnstiftende Bezüge aufgewiesen und entsprechend emotional besetzt gewesen sein. Wenden wir uns nun aber den weiteren Stationen von Gansers 9/11-"Karriere" zu, wie sie im Grundzügen bereits in seiner Schilderung auf "911 untersuchen" Erwähnung finden.

Das "Kolloquium" bzw. Seminar, von dem im oben zitierten Ausschnitt Rede war, hat Daniele Ganser im Sommersemester 2005 am Historischen Seminar der Universität Zürich unter dem Titel "Geschichtsschreibung in den USA - 9/11" gehalten. Laut einem Bericht der ETH-Zürich sei es Ziel des Seminars gewesen "Licht ins Dunkel dieser grössten und kompliziertesten aller Verschwörungen zu bringen". In einem Interview mit dem anthroposophisch ausgerichteten Journal "Europäer" legt Ganser selbst den Aufbau und Inhalt dieser Lehrveranstaltung dar und benennt die zugehörige Pflichtlektüre:
"Geschichtsschreibung in den USA" - Prüfungswissen Bsp. 1
Wir haben zum 11. September verschiedene Darstellungen. Die haben wir verglichen und gelesen. Es handelte sich um die Bücher The 9/11 Report – auch Kean-Report genannt, die offizielle Untersuchung der amerikanischen Regierung unter Chairman Thomas Kean, erschienen im Sommer 2004. Die Untersuchung wurde von der Regierung Bush als die offizielle, der Wahrheit entsprechende Darstellung der Ereignisse des 11. September bezeichnet. Dann gibt es aber auch amerikanische Journalisten, die gesagt haben: Die Bush-Regierung lügt, und die haben eine ganz andere Version erzählt. Zu diesen gehört Michael Ruppert – es gibt noch einige andere, aber ihn haben wir ausgewählt. Sein Buch heißt Crossing the Rubicon. Das waren, wie schon beim ersten Buch, nochmals 600 Seiten. Und dieses Buch mussten die Studenten auch lesen. So hatten sie verschiedene Darstellungen zum 11. September. Und dann haben wir noch ein drittes Buch ausgewählt. Dieses stammt von einem Akademiker. So hatten wir eine ausgeglichene Verteilung: Regierung, Journalisten, Wissenschaft. Beim Akademiker handelt es sich um den emeritierten Professor David Ray Griffin. Er hat in seinem Buch The 9/11 Commission Report: Omissions and Distortions, (Olive Branch Press, 2005) gesagt, dass der von Kean herausgebrachte offizielle Bericht gravierende Mängel aufweise, schon in logischer und wissenschaftlicher Hinsicht. Diese verschiedenen Darstellungen der Ereignisse des 11. September haben wir miteinander verglichen und darüber debattiert.

Ruppert und Griffin gelten beide als Verschwörungsideologen. Bereits in dieser Hinsicht ist die Literaturliste der Veranstaltung - ein 2:1 für die Truther-Bewegung - wohl kaum als ausgewogen zu bezeichnen. Absonderlich mutet auch an, daß ihre beiden Werke als repräsentativ für einen journalistischen repsektive wissenschaftlichen Zugang zum Thema 9/11 behandelt werden. Diskutiert worden seien "Streitpunkte" zwischen den unterschiedlichen 9/11-Theorien wie etwa "Insiderhandel", "Anthrax-Anschläge" und "Einsturz des WTC 7". Von einer Auseinandersetzung unter Zuhilfenahme verschiedener theoretischer und methodischer Zugänge sowie entsprechender weiterer Lektüre ist bei Daniele Ganser nicht die Rede. An ihrer Stelle wird ein Eindruck von Seriosität und Anspruch dadurch erweckt, daß  obstinativ auf den Seitenumfang des zu lesenden Materials hingewiesen wird. Auch im bereits erwähnten ETH-Artikel wird dieses quantitative Argument bemüht - insgesamt 1800 Seiten "amerikanischer Quellenliteratur" habe es zu bewältigen gegeben - und soll offenbar beim Leser ohne spezifischen wissenschaftlichen Hintergrund Eindruck schinden. Anschließend, so fährt der Artikel fort, sei das erworbene Wissen in einer schriftlichen Prüfung abgefragt worden. Da diese Prüfung im ETH-Artikel mitgeliefert wird, bietet sich auch über die Prüfungsfragen ein Anhaltspunkt, welche Art Wissen in diesem Seminar vermittelt worden ist (siehe auch die beiden hier eingestellten Screenshots mit Ausschnitten aus dem Prüfungsbogen).


Ich muß gestehen, die Prüfungsfragen haben mich ganz spontan an Automobil-Quartettspiele mit Fragen zu Kubikzentimeterzahl, Baujahr und Höchstgeschwindigkeit erinnert, in deren Genuß ich mit wenig automobilfreundlichen Eltern nur deswegen gekommen war, weil eines dieser Exemplare kostenlos (als Werbeaktion) einer Waschmittelpackung beigelegen hatte. Analysefähigkeit und ein Verständnis für Zusammenhänge ist jedenfalls auch in Gansers Quiz-Format nicht gefragt gewesen. Eine "Auseinandersetzung mit relevanten Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft", wie sie die Prüfungsordnung der Universität Zürich vorschreibt, eine allgemeine Schulung der Denkfähigkeit oder auch die Vermittlung von Wissen über eine bestimmte Epoche kann ich anhand von Gansers Prüfungsbogen nicht erkennen. Als generelles Ergebnis des Seminars hält Ganser selbst fest, daß sich unter den Stundenten eine "schöne akademische Verteilung" hinsichtlich LIHOP-, MIHOP- und Suprprise-Anhängerschaft herausgebildet habe, daneben aber habe es 

"[...] auf jeden Fall einen Konsens [gegeben], dass der 11. September für die Menschen, die ihn erlebt haben, ein ganz wichtiges Ereignis ist, und dass sie die Wahrheit wissen wollen und dass es anstrengend ist."

"Geschichtsschreibung in den USA" -Prüfungswissen Bsp. 2
Bereits ein Blick in die deutsche Wikipedia zeigt, daß unter "Geschichtsschreibung" üblicherweise die "Darstellung von historischen Ereignissen" und "sprachliche Vermittlung historischer Erkenntnis"verstanden wird. Von einer Konzentration auf "Darstellung" und "Sprache" ist indes bei Gansers Beschäftigung mit der 9/11-Thematik weit und breit nichts zu sehen. Ein Wissen um die Wichtigkeit von Quellenkritik und die für einen kritischen Textzugang notwendigen analytischen Fähigkeiten wurden zumindest in der das Seminar abschließenden Prüfung nicht verlangt. 

Auch in dieser Hinsicht irritiert der prominente Platz, der David Ray Griffin bei der Lektüreauswahl zugemessen wurde. Griffin selbst ist keineswegs Historiker, sondern Theologe, insofern ist es irreführend, sein Werk unter "amerikanische Geschichtsschreibung" zu verbuchen.  Soweit sich aus dem zur Verfügung stehenden Material schließen läßt, hat dieses Seminar somit kaum mehr geboten als ein einigermaßen groteskes Zerrbild und eine oberflächliche, substanzarme Imitation seriöser Geschichtswissenschaft. Für die Präsentation nach außen war diese Ausrichtung des Seminars aber offenbar nicht hinderlich, vielmehr war sie geeignet, in der Trivialkultur verbreitete klischeehafte Vorstellungen darüber, wie wissenschaftliches Arbeiten aussehe, zu bedienen, so z.B. in Form des "man muß viel lesen und sich lange Listen von Fakten und Zahlen merken können". Ich hebe dies hier deswegen gesondert hervor, weil gerade dieses rhetorisch durchaus geschickte und auf das jeweilige Publikum zugeschnittene Spielen mit populären Stereotypen und subkulturellen Versatzstücken eines der Erfolgsrezepte Daniele Gansers zu sein scheint.

Das gansersche Seminar scheint nicht beanstandet worden zu sein - weder in seiner ursprünglichen Form noch anläßlich seiner Wiederholung im Jahr 2007. Für Diksussionen gesorgt hat hingegen Gansers eigener Darstellung zufolge ein öffentlicher Vortrag vom Herbst 2005 sowie diverse Zeitungsartikel und Interviews aus dem Jahre 2006. Am 11.9.2005 hat Daniele Ganser unter dem Titel "Terror, Erdöl, Angst und Krieg: Was wissen wir heute über 9/11 und den geostrategischen Kontext des Anschlags?" einen öffentlichen Vortrag in Zürich gehalten und anschließend im Rahmen der gleichen Veranstaltung mit Philipp Sarasin (einem weiteren verschwörungsideologisch ausgerichteten Historiker der Universität Zürich, der zu den Anthrax-Anschlägen publiziert hat) sowie dem Journalisten Stefan Schaer (u.a. Betreiber des Forums "911 untersuchen" , bei dem Ganser Mitglied ist) an einer Podiumsdiskussion teilgenommen.


Veranstaltungshinweis zu Gansers Vortrag vom 11.9.2005
Eine Aufzeichnung dieser Veranstaltung existiert leider nicht (bzw. zumindest ist sie nicht im Netz auffindbar), die Web-Zeitung der ETH Zürich bietet jedoch eine recht gute Zusammenfassung des Vortrags von Daniele Ganser. Vorgestellt wurde Ganser in der Einleitung des Berichts als "ETH-Spezialist für verdeckte Kriegsführung". Neben der Zusammenfassung von Gansers üblichen LIHOP-MIHOP-Ausführungen sowie seiner Bezugnahmen auf WTC 7 findet sich auch eine Passage, die bereits andeutet, wie der spätere Direktor von SIPER Terror, 9/11 und Öl als Themen zusammenbinden würde:

"„Es scheint geradezu eine systematische Strategie zu bestehen, Angst zu verbreiten und die Kulturen gegeneinander aufzuhetzen“, kritisierte Friedensforscher Ganser. Dabei spiele der „Peak Oil“ eine wichtige Rolle, d.h. der Kampf ums knapper werdende Erdöl. Dies sei auch für die Schweiz keine gute Entwicklung. Durch wissenschaftliche Analyse sollten daher offene 9/11-Fragen geklärt werden. Es müsse gelingen, in einer globalisierten Welt, in welcher sich die Kulturen stark vermischt haben, friedlich in einer freien Gesellschaft und mit gegenseitiger Achtung zu koexistieren."


Die "heftigen Reaktionen", die es auf diesen Vortrag laut Ganser selbst gegeben habe, scheinen zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich geworden bzw. medial ausgetragen worden zu sein; es ist mir zumindest nicht gelungen, von Ganser unabhängige Darstellungen hierzu zu finden. Auch ein Interview zu Gladio und 9/11 mit dem LaRouche-Organ EIRInvestigation vom April 2005 ist offenbar einer breiteren Öffentlichkeit ebenso wenig kritisch aufgefallen wie ein Beitrag Gansers zu "Able Danger" und 9/11 auf der verschwörungsideologischen Querfront-Plattform "globalresearch" (mehr zu globalresearch folgt im übernächsten post).


Erste kleinere Beben haben Daniele Gansers Truther-Aktivitäten dagegen im Folgejahr hervorgerufen. Anläßlich des Jahrestages von 9/11 hatte Daniele Ganser am 9.9.2006 unter dem Titel "Der erbitterte Streit um den 11. September" einen Artikel im Schweizer "Tages-Anzeiger" veröffentlicht. Auch hier stellte er umgehend einen Zusammehang zwischen den Anschlägen auf das World Trade Center und dem globalen Problem der Versorgung mit Energierohstoffen her:  
"Die These vom grossen geostrategischen Kampf der Supermächte USA, Russland und China um die schwindenden Erdöl- und Erdgasreserven ist auf den ersten Blick einleuchtend und nicht zuletzt wegen des steigenden Erdölpreises auch in Europa weit verbreitet. Problematisch ist sie trotzdem. Denn sie wirft die fundamentale Frage auf, ob die US-Administration in erster Linie Terroristen oder Erdöl jagt."


In Bezug auf Gansers argumentatives Vorgehen scheint mir gerade diese Passage recht aussagekräftig: einerseits geht aus ihr recht deutlich hervor, daß der Schweizer Historiker von der Suche nach monokausalen Erklärungsansätzen getrieben wird, andererseits schiebt er dann eine Relativierung hinterher, die sich wiederum einen Satz später in einer abrupten logischen Drehung als Scheineinwand bzw. Sophismus entpuppt. Des weiteren ist auch hier in diesem Artikel kein ausgeglichenes Vorstellen der drei unterschiedlichen "Theorien" zu 9/11 gegeben, Ganser hebt stark auf Exponenten der Truther-Bewegung ab und betont, daß diese durch ihre Beschäftigung mit 9/11 unter politischen Druck geraten seien. Inwiefern die Argumentation der angeführten Personen faktisch und logisch überhaupt tragbar war, bespricht Ganser nicht. Gansers Artikel erzeugt damit  mehr oder weniger gezielt den Eindruck, daß in Bezug auf ein ungelöstes 9/11 unerschrockene, kritische Wahrheitssucher einer repressiven Macht gegenüberstehen.


Ein Gutteil von Gansers Argumentation steht und fällt mit der "Denkbarkeit" eines inzenierten Terroraktes gegen die eigene Bevölkerung, wobei sein Konzept der "Denkbarkeit" jedoch vorakademisch bleibt. Ganser stellt, ohne qualitative Unterscheidungen zu treffen, die Ansichten von Akademikern unterschiedlicher Disziplinen, Journalisten und anderer Figuren des öffentlichen Lebens (u.a. den Schauspieler Charly Sheen) lediglich nebeneinander und summiert, was diese für vorstellbar und möglich halten. Zwischendrin heißt es, die offizielle Version sei nach Philipp Sarasin, Professor für Geschichte an der Universität Zürich "zumindest in einem Punkt nachweislich falsch". So verwischt Ganser immer wieder auf  problematische Weise akademische Analyse, Tatsacheneruierung  und bloße Wiedergabe gesellschaftlicher Diskurse.


Ganser behauptet unter anderem auch, die Tatsache, daß neben den beiden Türmen auch WTC 7 eingestürzt sei, sei "wenig bekannt". Jedoch wird im Internet im Zusammenhang mit 9/11 kaum etwas so breitgetreten  wie das angebliche Rätsel des 3. Gebäudes. Ganser deutet an, die Informationspraxis der amerikanischen Medien sei für den geringen Bekanntheitsgrad des Einsturzes von WTC7 verantwortlich und zitiert zur weiteren Stützung dieser Sichtweise auch seinen Kollegen Albert Stahel von der Universität Zürich mit seiner Behauptung, die Amerikaner seien schlecht und einseitig informiert worden. Ganser verleiht auf diese Weise seinen Lesern das schmeichelhafte, aber nicht in der Realität gründende Gefühl, zu einem relativ kleinen, erwählten Kreis von Menschen mit Spezialwissen zu gehören.


Hervorheben möchte ich - insbesondere in Anschluß an meinen vorherigen post - noch die Passage, in der Ganser sein Interesse an 9/11 in den weitere Forschungskontext der verdeckten Kriegsführung und Energiesicherheit, mit denen auch er im Rahmen seiner Anstellung an MILAK/ETH Zürich befaßt war, einordnet: 
"Peter Forster, Präsident der eidgenössischen Konsultativkommission für innere Sicherheit, betont, dass es auch für die Schweiz sehr wichtig ist zu wissen, ob der «Krieg gegen den Terrorismus» ein Vorwand ist, um Energieressourcen zu erbeuten.


In diesem Zusammenhang bin ich denn auch bedingt geneigt, Gansers Behautpungen einen gewissen Wahrheitsgehalt beizumessen. Gansers Interesse an 9/11 scheint in der Tat so ungewöhnlich und marginal nicht gewesen zu sein, auch nicht in seinem akademischen Umfeld. Es haben sich dann wohl doch einige universitäre Kollegen und auch politische Freunde gefunden, die sein Interesse an 9/11 und seine Ansichten hierzu teilen; ein gewisses Mißtrauen gegenüber den nach außen kommunizierten Distanzierungen der betreffenden Institutionen von Truther-Umtrieben bleibt somit  bestehen. Wer meine vorangegangenen beiden posts gelesen hat, ist denn vielleicht auch weniger überrascht darüber, daß Albert Stahel, Gansers Kollege am Centre for Security Studies an der ETH Zürich, sich in einem regen Austausch mit dem VPM-Magazin "Zeit-Fragen" befindet, das ihm im Jahr 2013 sogar in einem eigenen Artikel zum Geburtstag gratulierte, bzw. daß Stahel auch mit "Current Concerns",  der englischsprachigen Ausgabe des VPM-Organs, in Kontakt stand.   


Vordergründiges: Gansers Artikel im Tages-Anzeiger (Quelle)


Zeitgleich mit dem Artikel im Tages-Anzeiger war in der Baseler Zeitung unter dem Titel "Der Demokratie-Test schlechthin" auch ein Interview mit Daniele Ganser zu 9/11 erschienen. Gefragt, zu welcher Theorie er selbst tendiere, antwortete Ganser hier:
"Die Surprise-Theorie ist mittlerweile unter Experten stark unter Beschuss, weil die offizielle Version der Ereignisse, der «9/11 Commission Report», auch «Kean-Report» genannt, der ausschliesslich die Surprise-These vertritt, so schlecht ist. Dies hat den anderen beiden Theorien zu sehr viel Aufwind verholfen. Jetzt, fünf Jahre nach dem Ereignis muss man einfach dringend nochmals über die Bücher, weil wir bis jetzt keine offizielle Geschichtsschreibung haben, die standhält."


Auch diese Aussage legt nahe, daß Ganser ein holzschnittartiges Bild von Geschichtsschreibung und deren Aufgaben pflegt. Aus diesen Zeilen spricht die Erwartung, eine ein für allemal "die Wahrheit" festlegende autoritative Master-Erzählung schaffen zu können. Zwischen juristischer Ergründung eines Tathergangs, dem Bericht einer Untersuchungskommission, der je nach Betrachter und der Art der an ihn gestellten Fragen als Primär- oder Sekundärquelle fungieren kann, sowie einer auf Primärquellen aufbauenden und diese analysierenden sowie synthetisierenden "Geschichtsschreibung" wird hier nicht unterschieden. Entgegen seiner Bekenntnis zu historiographischem Pluralismus übt Ganser selbst eine andere Praxis und setzt stillschweigend voraus, daß Ereignisse und die von Historikern gelieferten, zwangsläufig interpretierenden Beschreibungen derselben in eins fallen müssten, d.h. Ganser setzt auf unzulässige Weise Sprache und Wirklichkeit gleich. Zudem verwickelt sich Ganser auch insofern in Widersprüche, als er im Rahmen einer demokratischen Gesellschaftsordnung selbst eine Art "offizielle Geschichtsschreibung" zu erwarten scheint; richtig wäre, an dieser Stelle von einem (wandelbaren) Forschungsstand und (relativem) Forschungskonsens zu sprechen.

Daniele Ganser im "Blick" (Bildquelle hier)
Wenige Tage nach diesen beiden fragwürdigen Publikationen wurde noch eine Art Reportage mit Daniele Ganser im "Blick" veröffentlicht. Inhaltlich ist dieser Artikel, das aus viel Bild und wenig Text besteht, wenig bemerkenswert, aufschlußreich für die Vorgehensweise und Selbstpräsentation Gansers ist jedoch die Darstellungsform. Ganser bemüht in ihm in dichter Frequenz Tätigkeitbeschreibungen, wie sie der Trivialkultur wohl als charakteristisch für geschichtswissenschaftliche Arbeitsweisen erscheinen. Die gehäufte Verwendung von Verben wie "forschen", "studieren", "herausfinden", "zweifeln", "fragen", "interessieren", "erklären", die nicht nur hier, sondern auch bei Gansers Vorträgen vor breitem Publikum gut zu beobachten ist, ist für Ganser offensichtlich das, was dem Schauspieler in der Vorabendserie sein weißer Kittel und das um den Hals gehängte Stethoskop.

Im vorliegenden Artikel wird Ganser bereits im Titel mit "Je mehr wir forschen, desto mehr zweifeln wir" zitiert. Im Teaser ist die Rede davon, daß Albert Stahel und Daniele Ganser "heisse Fragen" stellen würden. Anschließend werden MIHOP, LIHOP und Surprise als drei "Theorien" vorgestellt, die man laut Ganser "gleichberechtigt behandeln" solle. Anschließend betont er dann noch einmal: "Ich stelle nur Fragen". Zum Schluß des Artikels heißt es jedoch im Widerspruch zu dieser scheinbaren Neutralität, wiederum im Ganser-Zitat: "Die Lügen der US-Regierung werden je länger desto weniger toleriert."

Was Ganser denn nun genau zu 9/11 geforscht haben will und inwiefern er auf diesem Themengebiet überhaupt eigene Ergebnisse vorzuweisen hat, verrät der Artikel nicht. Nun könnte man einwenden, daß diese Aufmachung dem massenmedialen Profil des Blick geschuldet ist. Daß es sich hierbei aber doch um Gansers persönliches Verständnis von "forschen" handelt, wird deutlich im Abgleich mit an anderer Stelle getätigten Aussagen, etwa in Gansers jüngstem Auftritt bei KenFm. Hier behauptete er gegenüber Ken Jebsen, er habe:

"[...] als Historiker eben auch untersucht, daß die Christen doch eben Kreuzzüge geführt haben, daß in der katholischen Kriche nach dem 2. Weltkrieg eben die Nazis  nach Südamerika gebracht wurden und daß die Sexualverbrechen sozusagen der katholischen Kirche - das ist ein Riesenproblem - dann die Protestanten, was haben sie gemacht gegen Hitler, was haben sie gesagt, haben sie irgendetwas kluges gemacht, zur 9/11-Forschung, Terrorismusforschung, was war während dem Vietnamkrieg"

Er, so Ganser, "versuche halt herauszufinden", ob es Gottes Idee gewesen sei, "daß sich die verschiedenen Religionen gegeneinander aufhetzen und umbringen":
"Die Gottesfrage ist für die Friedensforschung ganz wichtig, also man kann die nicht einfach ausklammern. Und darum nehme ich die auch jetzt in die Forschung rein."


"Hauptdurchsage der Friedensforschung", so fährt Ganser fort, sei es, daß man sehr viel lerne, wenn man "offen" und "gewaltlos" bleibe. Durch welche(r) Friedensforscher diese Disziplin angeblich derart definiert worden ist, bleibt unerwähnt. "Untersuchen" und "erforschen" wird hier zum Synonym für schlichtes "Lesen" und "Informieren" über ein bestimmtes Thema. "Friedensforschung" und "Konfliktlösung" auf einem solchen Niveau geraten zur küchenpsychologischen Lebensberatung. Der Blick-Artikel mit seiner Überschrift "Je mehr wir forschen, desto mehr zweifeln wir", seinen großflächigen und farbenfrohen Bildern, wenig Text und noch weniger Hinweise auf "Forschung" deutete bereits an, wohin die gansersche Art eines (pseudo-)wissenschaftlichen Populismus führen würde und illustriert sehr gut die von Ganser selbst offenbar bewußt herbeigeführt Vermischung von (Populär-)Wissenschaft, Verschwörungstheorie und Trivialkultur.

Gansers Artikel im Tages-Anzeiger war im Verein mit seinen weiteren Äußerungen offenbar als so massiv verschwörungsideologisch argumentierend wahrgenommen worden, daß er dann doch eine öffentliche Beschäftigung mit Gansers 9/11-Aktivitäten in Gang gesetzt hat. Ein erster kritischer Artikel unter dem Titel "Glaubensbrüder" erschien in Ausgabe 37/2006 der "Weltwoche". In ihm wurde bemängelt, Ganser habe u.a. beim Tagesanzeiger eine Plattform erhalten, um dort seine "aberwitzigen Spekulationen" alias das in Truther-Kreisen gängige Gedankengut zu verbreiten: 

"Ganser referiert nicht bloss, sondern er lenkt die Leser in eine bestimmte Richtung: Sie sollen die Fakten in Zweifel ziehen und an die Verwicklung der US-Regierung in den blutigsten Terroranschlag der Geschichte glauben. Den geistigen Verrenkungen, die man dazu vollführen muss, bereitet Ganser das Terrain, indem er sämtliche «Theorien» in einen Topf wirft."

"Ganser verwischt die Differenz zwischen gesichertem Wissen, offenen Fragen und den Ausgeburten der Fantasie gezielt. Unterstellungen von passionierten Verschwörungstheoretikern erhalten in seinen Artikeln den gleichen Aussagewert wie gesicherte Quellen." 

Quelle: https://www.flickr.com/photos/patsch/245535515/sizes/z/
Gansers verstärktes Auftreten mit Thesen zu 9/11 auch in deutschsprachigen Medien hat im Herbst 2006 nicht nur für erste mediale Kritik gesorgt, sondern auch zu einer Distanzierung von universitärer Seite, insbesondere von Seiten der ETH, die offenkundig um ihren Ruf besorgt war. Am 17.9.2006 erschien in der SonntagsZeitung ein Artikel unter dem Titel "ETH und Uni Zürich gehen auf Distanz zu Verschwörungstheoretiker" (siehe auch nebenstehendes Bild). In ihm bemüht sich Andreas Wenger, Leiter der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik an der ETH Zürich darum, eine Abgrenzung seines Instituts von Gansers Beschäftigung mit 9/11 vorzunehmen: "An meiner Forschungsstelle wird nicht über Verschwörungstheorien geforscht." Ganser habe seit 2003 bei Wenger zur Rolle der Wirtschaft in Gewaltkonflikten geforscht; was er nun zu 9/11 verlautbaren lasse, seien "ungeheure Behauptungen, für die keine Beweise geliefert werden". Wenger halte das für "wissenschaftlich fragwürdig und politisch unsensibel". Er habe zudem Ganser schon im Vorjahr darauf hingewiesen, "dass er sich in dieser Sache nicht als Mitarbeiter der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik der ETH Zürich äußern könne". 


Auch die Universität Zürich ließ über ihre Kommunikationsdelegierte Christina Hoffmann verlautbaren, daß Daniele Ganser nicht die universitäre Meinung vertrete, sondern sich als Privatperson äußere. Des weiteren heißt es in dem Artikel der SonntagsZeitung:
"Offen ist, ob die gansersche Verbreitung von Verschwörungstheorien Konsequenzen haben wird."

Ein Blick zurück auf Gansers 9/11-Artikel im Tages-Anzeiger bestätigt jedoch, daß Ganser sich in der Tat wohl nicht an die Ermahnung des Vorjahres gehalten hat: er ist erneut nicht als Privatperson, sondern als Akademiker und als Vertreter  wissenschaftlicher Institutionen in Erscheinung getreten. Es heißt im Tages-Anzeiger zu ihm: 
"Daniele Ganser ist Historiker an der Universität Zürich. Sein Buch «NATO’s Secret Armies» untersucht inszenierten Terrorismus im Kalten Krieg. Zum neuen Sammelband von David Ray Griffin («911 and American Empire: Academics Speak Out») hat er ein Kapitel beigetragen."
 
Vor diesem Hintergrund erscheint die Rüge von Seiten der ETH wie auch der Universität Zürich nachvollziehbar und ist deren Distanzierung von Gansers 9/11-Aktivitäten keineswegs gleichzusetzen mit einer Beschneidung der Meinungsfreiheit eines ihrer Mitarbeiter. Es ist allgemein übliche Praxis, bei öffentlichen Stellungnahmen von Wissenschaftlern darauf zu verweisen, ob diese sich zu bestimmten Thematiken als Privatperson oder als akademische Experten äußern - für Personen in anderen öffentlichen Ämtern gilt Ähnliches. Falls es so stimmt, daß Wenger Ganser bereits im Vorjahr zu einer entsprechenden Präzisierung des Kontextes seiner Äußerungen aufgefordert hatte - und Ganser selbst hat dieser Darstellung nicht widersprochen-, so war dies sicher nicht zu viel verlangt gewesen, zeugt vielmehr von einer doch recht hohen Toleranz dieser Institution zugunsten der Meinungsfreiheit ihrer Mitarbeiter. Auch der Vorwurf der wissenschaftlichen Fragwürdigkeit war, so wie ihn Wenger vorträgt, durchaus berechtigt.

Was den Vorwurf der fehlenden politischen Sensibilität angeht, so ist hier die "Beweislage" etwas komplizierter. In etwa zum Zeitpunkt dieses aufkommenden öffentlichen Streites müßte sich laut der Schilderungen Gansers auch die amerikanische Botschaft in Bern eingeschaltet haben. In "WTC7 und andere Rätsel um 9/11", einem Artikel, der am 7.9.2011 im Tages-Anzeiger erschienen ist, heißt es etwa:
"Gewisse Fachkollegen hätten ihm abgeraten, seine Forschungen zu den Terroranschlägen von 2001 weiterzuführen. Einige hätten zwar unter vorgehaltener Hand zugestimmt, dass vieles ungeklärt sei. Andere hätten aber gemahnt, solche Fragen seien zu politisch und könnten auch in der Schweiz eine Karriere als Wissenschaftler ruinieren, erzählt Ganser. Er sei auch beschimpft worden, selbst die US-Botschaft in Bern habe protestiert.Durch solche Anfeindungen lässt er sich aber nicht beirren. «Die Version der Bush-Administration blind zu übernehmen, würde den grundlegenden Prinzipien der Wahrheitssuche widersprechen», sagt Ganser."

Auf "911untersuchen" erzählt Daniele Ganser:
"Sogar die US-Botschaft in Bern protestierte und erklärte, es gehe nicht an, dass Schweizer Wissenschaftler die offizielle 911-Geschichte anzweifeln."

Eine Stellungnahme von Botschaftsseite oder gar Schilderungen Dritter scheinen zu diesem Vorgang leider nicht zu existieren. Das muß nicht verwundern, eine mündliche, formlose Beschwerde, die keine weiteren Spuren hinterläßt, halte ich für durchaus denkbar und wäre in einer Konfliktsituation wohl auch der sich anbietende erste Schritt gewesen. Ganser ist mit der Abwesenheit entsprechender Dokumente hier also nicht widerlegt. Sehr fraglich ist allerdings, ob der von Ganser kolportierte Einwand der Botschaft, man dürfe nicht "die offizielle 911-Geschichte anzweifeln", in dieser Form korrekt wiedergegeben ist. Es ist wohl nicht davon auszugehen, daß der amerikanische Botschafter selbst von einer "offiziellen Version" gesprochen hat, da er damit eine politische Festlegung von "Wahrheit" kundgetan und im gleichen Zuge auch die Berechtigung rivalisierender 9/11-Erzählungen eingeräumt hätte. Es ist also davon auszugehen, daß Ganser in seiner Darstellung das Verhalten der amerikanischen Botschaft verfremdet hat und seine diesbezüglichen Schilderungen nicht wörtlich zu nehmen sind.

Starke Zweifel an Gansers Erzählung scheinen mir auch insofern angebracht, als er bereits zuvor (wie oben dargelegt) Truther-Kollegen pauschal, d.h. ungeachtet ihrer intellektuellen Qualitäten, als Opfer von Repressionen dargestellt hat und in diesem Sinne gerne legitime Kritik an fehlenden wissenschaftlichen Standards mit politisch motivierten Zensur- und Repressionsversuchen verwechselt. Die Begründung des amerikanischen Botschafters für sein Einschreiten - sofern dieses tatsächlich stattgefunden hat - kann also durchaus auch eine andere als die von Ganser wiedergegebene gewesen sein.

Schlechte Wissenschaft alleine dürfte allerdings auch kaum einen legitimen Interventionsgrund abgegeben haben; ein Einmischen der amerikanischen Botschaft auf dieser Basis wäre höchst unklug gewesen, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Anders sieht die Lage aus, wenn man bedenkt, daß Gansers Äußerungen zu 9/11 nicht nur vorwissenschaftlich, sondern in Bezug auf die Leidtragenden der Anschläge von 9/11 so geschmacklos wie verletzend sein können - unter diesem Aspekt hätte ein Einschreiten im Zuge des Schutzes der Interessen Dritter dann eventuell eine Berechtigung gehabt. Es wäre auch in Betracht zu ziehen, ob Gansers Thesen zu 9/11 auch als nachweislich eine an die Adresse amerikanischer Regierungsvertreter gerichtete Verleumdung verstanden werden können und inwiefern eine solche durch Verleumdung durch den Grundsatz der Meinungsfreiheit abgedeckt wäre. Andere Erklärungen als die, die Ganser für die Wortmeldung des amerikanischen Botschafters liefert, sind also zumindest denkbar.

Noch weiter als in den oben zitierten Anschuldigungen geht Ganser in einem reißerisch aufgemachten Artikel, der 20 im französischsprachigen Schweizer Magazin L'Hebdo erschien. In "Dix ans de mensonges?" ("10 Jahre der Lügen"?) ist gleich ein ganzer Abschnitt unter der Zwischenüberschrift "Comment l'ambassade américaine intervient en Suisse pour faire taire les truthers" ("Wie die amerikanische Botschaft in der Schweiz interveniert, um die Truther zum Schweigen zu bringen") für die ganserschen Zensur- und Repressionsvorwürfe reserviert. Die ausgebreitete Faktenlage ist jedoch auch hier äußerst dünn. Anstatt einer konkreten Schilderung dieses (mutmaßlichen) Sachverhaltes wird erneut Ganser mit einer so pauschal wie vage wirkenden Anschuldigung zitiert:
"«L’ambassade américaine à Berne intervient systématiquement pour faire taire ceux qui remettent en cause la version officielle.»" (Zu Deutsch: "Die amerikanische Botschaft in Bern interveniert auf systematische Weise, um diejenigen, die die offizielle Version anzweifeln, zum Schweigen zu bringen.")

Wer derartige Vorwürfe in den Raum stellt, sollte sie auch - soweit möglich - zu untermauern suchen und auf sachliche Klärung dringen. Ganser aber spielt zwar immer wieder auf diesen Vorfall an und schlägt daraus bei seinen Zuhörern auch entsprechend als mutiger, unerschrockener Wissenschaftler, Kapital, hat sich aber beispielsweise nicht die Mühe gemacht, das Vorgehen der amerikanischen Botschaft seiner Erinnerung entsprechend niederzuschreiben und etwa auf schriftlichem Wege vom amerikanischen Botschafter in Bern eine Stellungnahme zu fordern. Gerade angesichts der Tatsache, daß Ganser die Freiheit der Wissenschaft so wichtig erscheint, ist es unverständlich, warum er hier keine öffentliche Diskussion in Bezug auf die Frage, wer auf welchem Wege und aufgrund welcher Motive intervenieren darf, angestrengt hat. Seine Vorwürfe schweben damit nach wie vor in der Luft und finden jenseits anekdotenhafter Passagen, die die Funktion haben, Gansers Mut zu Ikonoklastik zu illustrieren, keinen Niederschlag.

Ab Herbst 2006 hat Ganser immer weitere Interviews, Artikel und Vorträge zu 9/11 gegeben, die sich oftmals inhaltlich sehr gleichen und hier auch aufgrund ihrer großen Anzahl nicht einzeln betrachtet werden können. Ich werde mich in den folgenden Abschnitten auf den bereits erwähnten Beitrag Daniele Gansers zum Griffin-Sammelband beschränken, sowie auf seinen im Jahre 2011 an der Universität Basel öffentlich gehaltenen Vortrag, der erneut für Kritik von universitärer Seite gesorgt hat und Ganser als weiteres Beispiel für angeblich das Thema 9/11 betreffenden Zensurabsichten dient.


Ganser sorgt für Schlagzeilen (Quelle)
Hinweisen möchte ich hier allerdings zum Abschluß dieses Abschnitts doch noch auf einen Artikel mit dem Titel "9/11 an der Uni", der im Jahr 2007 erschien, verweisen. Hierin wird herausgestrichen, daß Ganser der einzige Schweizer Wissenschaftler sei, der sich mit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 beschäftigen würde. Beschrieben wird Ganser hier als "Mann, der die Wahrheit sucht und heikle Fragen stellt". Auffällig ist hier erneut, wie Ganser so autoritative wie unfundierte und substanzlose Aussagen darüber trifft, was "der Historiker" oder "der Friedensforscher" angeblich untersuche, feststelle, wolle und an Empfehlungen an die Allgemeinheit aussspreche. Eine Bezugnahme auf die jeweiligen Vertreter, Thesen und Schulen bzw. Fachdiskussionen des jeweiligen Feldes erfolgt auch in diesem Kontext nicht. Ob Ganser sich als Historiker, Theologe, Soziologe, Politikwissenschaftler, Psychologe oder interdisziplinärer Konfliktforscher betätigen möchte, auf welche Theorien und Methoden er sich hierbei stützt, bleibt offen, seine Aussagen nehmen sich schwammig und banal aus. Ganseres Ausführungen lassen oftmals wenig mehr erkennen als ein unbestimmtes Mischmasch vorwissenschaftlichen Alltagswissens, streichen dabei aber gleichzeitig ein angebliches Spezialwissen heraus. Hier einige Ausschnitte: 
"Sie [die Friedensforschung] kann zeigen, dass Konflikte wertvoll sein können, wenn sie die Weiterentwicklung der Gesellschaft oder auch des individuellen Bewusstseins fördern. Wir alle wissen, dass etwa Konflikte in zwischen menschlichen Beziehungen nützlich und notwendig sind und dass wir daran wachsen. Wichtig ist aber, dass solche Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden. Wenn wir uns gegenseitig umbringen, ist die Wachstumschance vertan."

"Die Aufgabe des Historikers besteht nun darin, die verschiedenen Theorien aufgrund der Quellenbasis gegeneinander abzuwägen.[...]Als erstes liest der Historiker den 600 Seiten langen Kean-Report aus dem Jahr 2004, die offizielle Darstellung zum 11. September. Er ist das wichtigste Dokument. Anschliessend prüft er dessen Vollständigkeit."

"Die Geschichtswissenschaft zeigt, dass man mit Terror die öffentliche Meinung stark beeinflussen kann."

"Die Geschichtswissenschaft ist auf jeden Fall noch nicht so weit, dass sie aufgrund ihrer Quellenarbeit sagen könnte, welche der drei Theorien stimmt. Bis jetzt steht nur fest, dass die offizielle Darstellung der Ereignisse vom 11. September grosse Lücken aufweist."

"Deshalb kommen Historiker nicht darum herum, die verschiedenen Theorien auszulegen und ihre Quellenbasis zu prüfen. Letztlich ist Geschichtsschreibung immer brisant."

"Erstaunlich ist, dass nur wenige Menschen überhaupt wissen, dass es drei Theorien zum 11. September gibt, und noch weniger wissen, wo genau die Streitpunkte liegen. Als Historiker und Friedensforscher muss ich diese Spannung aushalten können."

Hiermit läßt sich festhalten: Über ein banales, allgemeines Geplänkel kommt Ganser in seinen Zeitungsartikeln und Interviews zu 9/11 kaum heraus. Wie jedoch sieht es mit seinem wissenschaftlichen Beitrag zu einem 9/11-Sammelband aus? Bietet dieser mehr, und vor allem, Gehaltvolleres?
  
"Intellectuals Speak Out": Von Geheimdienstkritik über VIPS und globalresearch zur Realpolitik?


Das Buch "9/11 & American Empire: Intellectuals Speak Out." ist im September 2006 in den USA veröffentlicht worden und enthält einen Aufsatz Daniele Gansers unter dem Titel "The "Strategy of Tension" in the Cold War Period". Am Titel fällt auf, daß dieser, ebenso wie Ganser das für sich selbst praktiziert, das Bild des mutigen Intellektuellen, der für die Wahrheit kämpft, beschwört. Herausgeber des Buches sind David Ray Griffin und Peter Dale Scott, zu deren Hintergrund hier zunächst einiges gesagt werden muß. 

Peter Dale Scott ist ein kanadischstämmiger Schriftsteller und ehemaliger Diplomat, der sich (seit dem Vietnamkrieg) als Kritiker der amerikanischen Außenpolitik hervorgetan hat. Er hat sich vorrangig mit Parapolitik und dem "tiefen Staat" beschäftigt und davon ausgehend das Konzept der "deep politics" geprägt. Obwohl Scott als Englischprofessor in Berkeley an einer der prestigereichsten wissenschaftlichen Einrichtungen der USA tätig war, können seine politischen Schriften in ihrer Tendenz zu Sensationalismus und Verschwörungsideologie strengeren akademischen Anforderungen nur schwer standhalten.

Der Ruf Scotts als Verschwörungsideologe geht nicht erst auf dessen Arbeiten zu 9/11 zurück sondern weist eine vor die 9/11-Thematik zurückreichende Vorgeschichte auf. Scotts Studie zur Ermordung John F. Kennedys ("Deep Politics and the Death of JFK", 1993) war bei Kritikern bereits umstritten gewesen. Max Holland etwa hat das Buch in seiner Besprechung für The Wilson Quarterly  als "unreadable compendium of 'may haves' and 'might haves,' non-sequiturs, and McCarthy-style innuendo, with enough documentation to satisfy any paranoid" bezeichnet und auch Scotts Ansatz der "deep politics" wohl wenig überzeugend gefunden:
"What is this deep process? A virtual political Disneyland: the CIA, drug dealers, Somoza,
Fred Hampton, COINTELPRO, Oliver North. And that's just from two pages."

In Bezug auf 9/11 muß man Scott jedoch zugestehen, daß seine Beschäftigung hiermit etwas mehr Komplexität und Seriosität aufweist als marktgängige Truther-Argumentationen, da er etwa auf die internationalen Hintergründe des Phänomens des Terrorismus und unterschiedliche Faktoren, die zu seinem Entstehen beitragen haben, eingeht. So gesteht auch der Blog 911 CultWatch Scott zu, zu den intelligenteren und hörens- bzw. lesenswerten "Kritikern" der sogenannten  offiziellen 9/11-Version zu gehören und zeichnet ein differenziertes, wenngleich ebenfalls kritisches Bild von Scotts intellektueller Leistung:
"It would be trite to assume that all those supporting, or in the orbit/thrall of the 9/11 cult, are intellectual charlatans.  Some have interesting things to say, and in this category comes former Canadian diplomat Peter Dale Scott.  The originator of the term 'parapolitics' [..] Dale Scott's research into 'deep politics' predates 9/11. He is important both for this and because he uses past (and legitimate) research in a way that does not challenge, and in effect drums up support for, the 9/11 cult.  In doing so (and this is difficult to prove) he has compromised his intellectual and political integrity to a degree, at least, by evading key evidential issues or skipping lightly round them."

Der gleiche blogeintrag betont auch, daß Scott als "important and worthy opponent who we rate more highly than charlatans like Webster Griffin Tarpley & the holy snake-oil salesman David Ray Griffin" gelten könne. Nun wurde das hier relevante Buch aber gerade von eben jenem David Ray Griffin mitherausgegeben und steht damit gerade nicht für eine Forschung, die sich über Truther-Diskurse erheben würde. Einen unabhängigen und parteilosen Charakter,  wie ihn Ganser immer wieder für sich selbst behauptet, kann diese Publikation angesichts ihrer beiden Herausgeber also nur schwer für sich beanspruchen.

David Ray Griffin ist ein emeritierter Professor für Philosophie und Theologie und hat sich erst im Zuge der Anschläge auf das World Trade Center politischen und historischen Themen zugewendet. Er bringt damit von Haus aus wenig mit, was ihn dazu qualifizieren würde, das Thema 9/11 auf ereignisgeschichtlicher Ebene zu behandeln oder die Arbeiten anderer auf diesem Gebiet entsprechend einzuordnen. Zur Überzeugung, daß die sogenannte "offizielle Version" inkorrekt sei, gelangte er u.a. nach der Lektüre von Nafeez Ahmed, der auch an anderen Stellen im Umfelde Daniele Gansers auftaucht (ich werde zu späterem Zeitpunkt noch näher hierauf eingehen). Das erste Buch David Ray Griffins zum Thema 9/11 erschien im Jahr 2004 unter dem Titel "The New Pearl Harbor: Disturbing Questions About the Bush Adminstration and 9/11". Griffin hatte sich hierin u.a. auf den französischen Journalisten Thierry Meyssan bezogen, zu dessen Internetprojekt "Voltairenet" Ganser ebenfalls Kontakt hat.

Der britische Journalist David Aaronovich charakterisiert in "Voodoo Histories. How Conspiracy Theory has Shaped Modern History" (S. 11-12) das Griffin-Meyssan-Truther-Netzwerk wie folgt: 
"If necessary, theorists become interestingly opaque about the qualifications of their experts.[...] Another aspect of this fudging is the tendenccy among conspiracists to quote each other so as to suggest a wide spread of expertise lending support to the argument. Thus, over the events of 9/11, the French conspiracy author Thierry Meyssan cites American conspiracy author Webster Tarpley; Webster Tarpley cites David Ray Griffin and David Ray Griffin cites Thierry Meyssan. It is a rather charming form of solidarity. [...] The conspirationists work hard to give their written evidence the veneer of scholarship. The approach has been described as death by footnote. Accompanying the exposition of the theory is a dense mass of detailed and often undifferentiated information, but laid out as an academic text."

Verlagsbild vom Cover
Gansers eigener Artikel in "Intellectuals Speak Out" ist recht unspektakulär. Eingangs (S.79) bezieht sich Ganser auf David Ray Griffins "The 9/11 Commission Report: Omissions and Distortions" und schildert, wie dieses Buch seine Hoffnung habe zerschellen lassen, daß der offizielle Untersuchungsbericht vom Juli 2004 für Aufklärung sorgen werde. Er selbst erhebe allerdings mit seinem Aufsatz nicht den Anspruch "to explain what really happened on 9/11". Statt dessen stellt er nach dem bereits bekannten Schema seine drei "Verschwörungstheorien" vor, wobei er auf auffällige Weise versucht, diese mit religiösen Unterscheidungen in Verbindung zu bringen (S.81). LIHOP schlage vor, daß 9/11 eine "combined Muslim and Jewish-Christian conspiracy, in which the latter group outwitted the former" gewesen sei, wohingegen MIHOP hauptsächlich von einer christlichen oder jüdisch-christlichen Verschwörung ausgehe. Auf eine für seine Argumentationsweise geradezu typische Art nimmt er gleich darauf diese Andeutungen jedoch wieder zurück:
"Theologians have correctly pointed out that no true Christian, Jewish or Muslim values - including love and respect for other human beings - can be found in the crimes of 9/11, and that it is therefore fundamentally wrong to link any of the three largest monotheistic religions of the world to the crime. If religion played a role in the fanatic crime at all, then it was misguided religion."

Möglicherweise macht sich auf diese Weise in Gansers Ansatz der theologische Einfluß Griffins bemerkbar. Das Hauptthema von Gansers Aufsatz macht die Frage aus, ob eine westliche, demokratische Regierung zu einer terroristischen False-Flag-Operation, die sich gegen die eigenen Bürger richtet, fähig wäre und ob es möglich sei, daß solch eine Aktion über einen längeren Zeitraum hinweg geheim bleiben könne. In der zugehörigen Argumentation bemüht Ganser im wesentlichen seine Vorarbeiten zum Thema geheime Kriegsführung in den Zeiten des Kalten Krieges und liefert hiermit eine Art Vorgeschichte zu 9/11. Einen solchen thematischen Ausschnitt zu wählen ist m. E. durchaus legitim und erlaubt Ganser, in größerem Umfang auf früheren, eigenen Forschungsergebnissen aufzubauen. Nichtsdestotrotz fallen bei diesem Artikel einige Schwächen und Merkwürdigkeiten auf.


So leitet Ganser seine Beschreibung der "Strategy of Tension" ein mit einem Verweis (S.82) auf die Exklusivität des Wissens über diese Strategie. Außer der Herstellung von Autorität und möglicherweise einer auf ein solches "Spezialwissen" bauenden Gemeinschaft zwischen ihm und seinen Lesern scheint diese Passage keine wesentliche argumentative Funktion innerhalb der Texstruktur zu haben:
"It is probably fair to say that of the roughly six billion people who live on our planet today, far less than one percent has ever heard of the "strategy of tension". And only a very few of these could illustrate the strategy with specific historical examples. It is indeed a strategy of a shadow world, known only to a few military and intelligence officers (and some criminals) who have carried it out, a few police officers and judges who fought against it, and a handful of journalists and academics who have written about it.


Üblich wäre an dieser Stelle eine Skizze des Forschungsstandes gewesen, womit Ganser sein Forschungsthema nicht nur in einen weiteren Kontext hätte einordnen, sondern auch seine eingehende Beschäftigung mit diesem Thema unter Beweis stellen können und sein Fachwissen sowie seinen eigenen Forschungsbeitrag (sein akademisches Kapital) an dem seiner Kollegen gemessen hätte. Hinweise auf Forschungskontroversen und eine Besprechung der relevanten Literatur finden sich in diesem Artikel jedoch mit Ausnahme einer sehr kurzen, kursorischen Erwähnung von US-Forschung zu diesem Thema (wenige Sätze auf S. 91) nicht. Ganser legt nicht einmal offen, woher der Begriff "strategy of tension" stammt, wie alt dieses Konzept ist und wie es von wem definiert und verwendet wurde. Seine Ausführungen sind auch insofern unscharf, als er nicht näher ausführt, inwiefern "strategy of tension" eine Art wissenschaftliches Konzept darstellt, d.h. auf der Ebene eines Metadiskurses angesiedelt ist, oder ob es die Bezeichung für eine Strategie ist, die von ihren Verfechtern so geprägt und verwendet wurde. Ebenso unterläßt es der Text da, wo er die Definition des US-Department of Defence für "psychological warfare" liefert (S.83), diese Definition zu datieren und in einem geschichtlichen Kontext zu verankern.

Unter diesem Aspekt wirkt die Vorgehensweise Gansers dann eher ahistorisch. Ganser legt wenig Wert darauf, die  Entwicklung von Konzepten und Strategien verdeckter Kriegsführung aufzuzeigen und setzt an diese Stelle ein unpräzises Argumentieren mit menschlichen Grundeigenschaften (S.83):

"Leaving aside the fact that philosophers, psychologists, neurologists, and theologians have never been able to fully agree on exactly what "the mind" is, we can for our purposes here define it simply as our human ability to think and feel. If a group can get access to our thinking and our feeling without our noticing, it can exercise great power over us. Once we notice that our psyches are being manipulated through psychological warfare, the technique loses some of its effects."


Da, wo es um historische Beispiele für die "Strategy of Tension" geht, wird nicht problematisiert,   inwieweit hinter den genannten Ereignisabläufen tatsächlich staatliche Strategien standen oder die entsprechenden Akteure möglicherweise auch eigenmächtig vorgingen, daß Teile geheimdienstlicher Strukturen auch aus dem Ruder laufen können sowie daß die Zusammenarbeit unterschiedlicher Instanzen auch unerwartete Dynamiken zeitigen kann. Kurz: Ganser thematisiert nicht bzw. kaum, welche Ebenen inwieweit und in welcher Form beteiligt  waren und wie sich individuelle Intentionen und Nato-Taktiken in der Praxis zusammenfügen. Folglich ist Ganser auch mit dem Ziehen von Schlüssen schnell bei der Hand, stützt sich oft auf äußerst dünne Faktenlagen bzw. Indizienketten und versäumt Quellenkritik. 

Am glaubhaftesten ist Gansers These, daß Stay Behind-Truppen im Rahmen von Nato-Strategien bzw. auf auf Nato-Anweisungen hin Anschläge begangen hätten, in Bezug auf Italien. Hier allerdings wäre mit Blick auf seinen eigentlichen Argumentationszweck einzuwenden, daß, selbst wenn die USA hier tatsächlich im Rahmen einer Strategy of Tension für terroristische Anschläge in Italien verantwortlich gemacht werden könnten, dies in keinster Weise belegen würde, daß sie auch auf gleiche Weise bereit wären, ebenfalls gegen die eigenen Bürger gerichtete Anschläge in den USA selbst durchzuführen. Gansers Argumentation ist damit nicht nur indirekt, sein Konzept der Denkbarkeit bleibt auch hier wieder weitgehend auf einer vorwissenschaftlichen Ebene stehen.


Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Wahl des Untersuchungsausschnitts vor dem Hintergrund von Gansers früheren Untersuchung zu Stay-Behind-Strukturen Sinn macht und auch der indirekte, eher abstrakt-deduktive Argumentationsansatz, bei der Ganser sich Spekulationen zu 9/11 selbst weitgehend enthält, sich statt dessen der Frage von (historischen) Vorbildern oder Mustern für inszenierte Terroranschläge zuwendet, keinen akademischen Sündenfall darstellt. Die Aussagekraft des Aufsatzes in Bezug auf das, was Ganser umtreibt - die "Wahrheit" über 9/11 - ist dadurch allerdings auch gering. Der Artikel bietet wenig mehr eine Wiederaufwärmung von Gansers älteren Studien zu Stay Behind-Netzwerken. In der konkreten Ausführung läßt sich zudem ein gewisser Mangel an geschichtswissenschaftlicher Methodik erkennen.  


Zur Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte des Sammelbandes gilt es hier noch einige interessante Informationen zu ergänzen, da diese erneut auf die Bedeutung prorussischer Querfront-Netzwerke verweisen. Vorgestellt wurde "Intellectuals Speak Out" in Form eines Panels, das im September 2006 in Berkeley stattfand und anschließend per Video einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurde. Als Redner anwesend waren die beiden Herausgeber David Ray Griffin und Peter Dale Scott, sowie Ray McGovern, Mitbegründer der Vereinigung Veteran Intelligence Professionals for Sanity, Peter Phillips, Leiter des "Project Censored" und Kevin Ryan. Project Censored ist eine linksalternative Medieninitiative, die 9/11-Verschwörungstheorien unterstützt, Kevin Ryan fungiert als Mitherausgeber des "Journal of 9/11 Studies". Die Besetzung des Panels deutet bereits darauf hin, daß es bei dieser Veranstaltung genau wie bei der Publikation selbst sehr viel weniger darum ging, die Anhänger unterschiedlicher 9/11-Versionen miteinander ins Gespräch zu bringen, als darum, Truther zu bündeln und ihre Sichtweisen der "offiziellen Version" entgegenzustellen.

Der ehemalige CIA-Offiziers Ray McGovern, der anders als Griffin, Scott, Phillips und Ryan an der Publikation selbst nicht mitgewirkt hat (das Vorwort bzw. die Danksagung konnte ich leider nicht einsehen, so daß ich nicht sagen kann, ob er vielleicht indirekt zu seinem Zustandekommen beigetragen hat), war zugleich Moderator und Gastgeber und hat möglicherweise auch generell bei der Bekanntmachung bzw. Vermaktung des Buches eine wesentliche Rolle gespielt. So wird das Buch beim Verlag u.a. mit seiner Empfehlung beworben: 
"It has long been clear that the Bush-Cheney administration cynically exploited the attacks of 9/11 to promote its imperial designs. But the present volume confronts us with compelling evidence for an even more disturbing conclusion: that the 9/11 attacks were themselves orchestrated by this administration precisely so they could be thus exploited. If this is true, it is not merely the case, as the Downing Street memos show, that the stated reason for attacking Iraq was a lie. It is also the case that the whole 'war on terror' was based on a prior deception. This book hence confronts the American people—indeed the people of the world as a whole—with an issue second to none in importance and urgency. I give this book, which in no way can be dismissed as the ravings of 'paranoid conspiracy theorists,' my highest possible recommendation."

Die von Ray McGovern mitbegründeten Veteran Intelligence Professionals for Sanity, eine Gruppe ehemaliger hochrangiger US-Nachrichtendienstler, die sich Anfang 2003 im Zuge der Kritik am Irak-Krieg formiert hatten, verdienen eine weitere kurze Erläuterung.  Jüngst ist diese Vereinigung mit einem Brief an Angela Merkel in Erscheinung getreten, in dem das Vorliegen einer russischen Invasion in der Ostukraine bestritten wird. William Binney, einer der Wortführer dieser Aktion, war zunächst Rußland-Spezialist gewesen und anschließend bei der NSA angestellt. Im Jahre 2001 wurde Binney zum NSA-Whistleblower und damit einem Vorläufer Edward Snowdens, den er heute unterstützt. Binney gehört auch zu den Unterzeichnern der Petition der "Architects and Engineers for 9/11 Truth". Im Falle von Julien Assange war es dagegen Ray McGovern, der über den "Sam Adams Award" der von ihm begründeten "Sam Adams Associates for Integrity in Intelligence" dem australischen Hacker und Whistleblower seinen ersten Preis zuerkannte und damit für einen größeren Bekanntheitsgrad sorgte.

Diese Verknüpfung von Kritik an US-Geheimdiensten, einer Affinität zu Verschwörungstheorien mit zumindest latent antiamerikanischem Charakter und einem Parteiergreifen für russische Außenpolitik scheinen mir hier denn doch etwas zu augenfällig, um sie mit Stillschweigen zu übergehen. Dazu, wie systematisch oder punktuell und kontingent diese Vernetzungen sind, lassen sich momentan wohl schwerlich definitive Aussagen treffen, weitere Recherche zu diesem Problemkomplex halte ich jedoch für sinnvoll. Jedenfalls scheint Ray McGovern in Russland zugewandten linken Kreisen einiges Gewicht zu haben und eine gute Adresse zu sein, um über ebendiese Kreise für Öffentlichkeit und Ruhm zu sorgen.
Kehren wir nun jedoch wieder zu der erwähnten Buchvorstellung von "Intellectuals Speak Out" zurück. Bonnie Faulkner, Moderatorin des alternativen Radiosenders KPFA, der auch der Veranstalter des Panels war, erinnerte in ihrer Einführung an eine ihrer ersten "Guns & Butter"-Sendungen zu 9/11, in der der kanadischen Ökonom und Globalisierungskritikers Michel Chossudowsky mahnende Worte gesprochen habe:
"Almost five years ago, in a very early interview on Guns and Butter, Michel Chossudovsky, professor of economics at the university of Ottowa - he said to me at the time: "It's not enough to be against war. Everyone is against war. We must expose the big lie that the war is based on. And that big lie is the political narrative regarding the events of September 11, 2001." He went on in many programs on Guns and Butter to document that Al Quida is an instrument of US foreign policy and that 9/11 is the biggest fraud in US history." 

Chossudovsky als Ideengeber? B. Faulkner bei der Einführung
Bonnie Faulkner, die Mitveranstalterin der Buchvorstellung, sieht also in Michel Chossudovsky einen wesentlichen Impuls für die Erschaffung "alternativer" Erzählungen zu 9/11. Michel Chossudovsky ist in prorussischen Querfrontkreisen eine recht wichtige Figur (ich werde im übernächsten post mehr dazu schreiben) und sorgt insbesondere mit seinem Centre for Research on Globalization (kurz: globalresearch) für die Verbreitung von oberflächlich links aussehender, aber doch eher rechts beheimateter Globalisierungskritik, von politishcen Analysen, die an den Interessen von Potentaten wie Ahmadinedschad, Putin, Ghaddafi und Assad ausgerichteten sind wie auch eines ganzen Sammelsuriums an unterschiedlichen Verschwörungstheorien und Weltuntergangszenarien. Auch "9/11 and American Empire: Intellectuals Speak Out" wurde von globalresearch in Form einer Rezension im Januar 2007 beworben.


Bei einer Überprüfung der Veranstalter wie auch der Referenten der Buchvorstellung ergibt sich, daß sie allesamt mit globalresearch in Kontakt standen bzw. stehen. David Ray Griffin, Peter Dale Scott, Ray McGovern, Peter Phillips, Kevin Ryan und Bonnie Faulkner selbst, sie alle sind ausnahmlos auf globalresearch als Autoren gelistet und oftmals sogar mit einer Vielzahl von Artikeln vertreten. Von Peter Phillips etwa stammt ein Artikel mit dem Titel "Exposing the Financial Core of the Transnational Capitalist Class" (womit denn auch bereits angedeutet ist wie es funktionieren kann, daß globalresearch sowohl linke wie rechte Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker anzieht und wie die Seite über Verschwörungsideologien und Antisemitisches Anhänger unterschiedlicher politischer Lager auf sich vereinen kann). Bonnie Faulkner hat auf globalresearch zuletzt ein Interview mit MIchel Chossudovsky zum Thema "Ukraine’s “Democratic” Coup D’état: Washington’s “Neo-Nazi Neoliberal” Proxy Government" veröffentlicht. 


Eine Betrachtung der Autoren von "Intellectuals Speak Out" bestärkt dieses Bild der Vernetzung mit globalresearch noch. Mit Richard Falk, Daniele Ganser, David Ray Griffin, Peter Dale Scott, John McMurtry, Karen Kwiatkowski, Kevin Ryan, Peter Phillips und Bridget Thornton sind 9 von 13 Beitragenden auch Autoren bei globalresearch. Die restlichen Autoren des Sammelbandes, d.h. Morgan Reynolds, Ola Tunander, Steven E. Jones (der Vertreter der These, WTC 7 sei mit Nanothermit gesprengt worden) und Celeste Vogler sind zwar nicht Verfasser von eigenen Beiträgen bei globalresearch, werden von Chossudovskys Plattform aber - in teils recht unterschiedlichen Zusammenhängen - zumindest des öfteren erwähnt und besprochen. Manchmal stammen die Autoren dieser Besprechungen dann selbst wieder aus dem gleichen Kreis, wie etwa wenn Peter Dale Scott in einem globalresearch-Artikel zu "Global Shadow Elites" auf den norwegischen "Friedensforscher" Ola Tunander verweist, der wiederum an einem weiteren Buchprojekt mitgewirkt hat, für das auch Ganser einen Beitrag verfasst hat....  (auch hierauf werde ich in einem späteren post noch näher eingehen). Karen Kwiatkowski, wie Ray McGovern eine ehemalige Geheimdienstmitarbeiterin (allerdings nicht bei der CIA, sondern der NSA), ist neben Artikeln auch mit Video-Beiträgen auf globalresearch präsent.


Ich habe mir hier die Mühe erspart, systematisch zu kontrollieren, welcher der Autoren und/oder der Referenten bei der Buchvorstellung auch bereits bei RT aufgetreten bzw. dort regelmäßig zu Gast ist, einige wie Ray McGovern, Kevin Ryan und Peter Dale Scott sind jedenfalls mit von der Partie. Überpüfen ließe sich ebenfalls noch, wer von den Mitwirkenden des Sammelbandes wie Peter Dale Scott, David Ray Griffin und Richard Falk ebenfalls Autor bei Voltairenet, der Medienplattform des bereits erwähnten Thierry Meyssan ist oder mit ihr, wie Daniele Ganser selbst, zumindest über Interviews etc. in Verbindung steht. Erwähnenswert erscheint mir in Bezug auf diese doppelten und dreifachen Vernetzungen prorussischer Querfrontkreise, daß Peter Dale Scott ein guter Freund von Noam Chomsky ist, der bereits bei Daniele Gansers Dissertation eine informelle Mentoren-Rolle einnahm (siehe vorigen post).

Peter Dale Scott soll laut eines Literatur-Blogs zusammen mit Chomsky und Howard Zinn "at very many anti-war rallies and talks and teach-ins against Unistat state power, sit-ins and consciousness raisers" teilgenommen haben, d.h. diese drei linken Intellektuellen waren wohl gemeinsam Teil der amerikanischen Anti-Vietnamkrieg-Bewegung gewesen (den "Writers and Editors War Tax Protest" von 1968 hatten sie z.B. auch gemeinsam unterzeichnet). Auf akademischer Ebene hatte Scott u.a. an der Veröffentlichung der von Daniel Ellsberg geleakten "Pentagon Papers" mitgewirkt, die von Chomsky und Zinn gemeinsam herausgegeben wurden. Chomsky und Scott divergieren in ihren Ansichten zum Mord an John F. Kennedy wie auch zu 9/11, was Chomsky aber nicht davon abhält, seinen Freund Scott weiterhin als einen "fine scholar" zu bezeichnen. Mir scheint es vor diesem Hintergrund und aufgrund von Scotts Arbeiten zu "deep politics" auch denkbar, daß Chomsky selbst, als Ganser noch an seiner Dissertation saß, dessen Kontakt zu Scott hergestellt hat.

 INVISSIN-Buchserie "Realpolitik"
Ein weiteres Mal haben sich die Wege von Peter Dale Scott mit denen Gansers gekreuzt, als beide zu einer NATO-kritischen Konferenz in einem  Moskauer Institut namens INVISSIN zugegen waren. INVISSIN bzw. seine Direktorin Natalya Krasheninnikova geben u.a. eine Buchserie unter dem Titel "Real'naya Politika" ("Realpolitik") heraus, die die Perspektiven kritischer Denker  aus dem Inneren westlicher Gesellschaften vorstellen und damit die "wirkliche Politik der USA und des angelsächsischen Systems" offenlegen sollen. Zu diesem Institut und seinen Vernetzungen werde ich an anderer Stelle noch ausführlicher berichten. Hier sei aber schon einmal erwähnt, daß Scotts "Drugs, Oil and War" und Gansers "Nato's Secret Armies" die ersten beiden Bücher waren, die im Jahr 2012 in russischer Übersetzung in dieser Reihe erschienen sind. Beworben wird die Übersetzung von Scotts "Drugs, Oil and War"  in Rußland u.a. auch auf eurasischen Plattformen (hier und hier).  


Gerade aus den Aktivitäten INVISSINs geht die Absicht recht deutlich hervor, den ehemaligen Gegner, dem man im Kalten Krieg unterlegen war, in einem möglichst schlechten Licht erscheinen zu lassen. Das heißt für westliche Wissenschaftler, die mit INVISSIN kooperieren, daß ihre Kritik an der US-Außenpolitik vereinnahmt wird von demokratiefeindlichen Kräften innerhalb der Russischen Föderation, sie sich damit zum Vehikel der Image-Kampagnen rechtskonservativer und antiliberaler Kreise machen lassen. Bedenkt man die Assoziation von "Intellectuals Speak Out" mit globalreasearch und dessen Macher Chossudovsky, so läßt sich die Herausgabe von Gansers und Scotts Monographien bei INVISSIN möglicherweise auch als Verlängerung dieser publizistischen Kooperation lesen.

Ob nun bei Akademikern wie Scott am Anfang der ehrliche Wille stand, undemokratischen Bestrebungen innerhalb der eigenen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen und dann ein Zweckbündnis mit prorussischen Kreisen bzw. aktuell der neoeurasischen Querfront gemäß der Überlegung erfolgte, aus einer (gefühlt oder real) schwachen Position heraus verkrustete Strukturen dann effektiver aufhebeln zu können, wenn einem dabei im Hintergrund die konkurrierende Supermacht zur Seite steht, oder ob diese Allianz von vornherein als propagandistisches "soft power"-Projekt angelegt war, ist von der strukturellen Wirkung her zweitrangig: Was als intellektuelles Gegenmittel gegen Demokratiedefizite, fortschreitende Vermachtung und Willkür daherkommt, wird so oder so im Zuge seiner Vereinnahmung durch internationale Querfrontstrukturen in sein Gegenteil verkehrt und sorgt damit für ein Fortleben bipolarer Logiken aus der Zeit des Kalten Krieges.
 
Wie sich westliche Nato- und Geheimdienstkritiker  als Individuen zwischen den beiden tradierten Machtblöcken des Kalten Krieges verorten, inwieweit sie tatsächlich bestrebt sind, durch eine kritische Haltung dem "Eigenen" gegenüber einen Ausgleich mit dem "anderen Imperium" zu befördern, inwieweit sie sich willig als "agents of influence" hergeben und damit ihre wissenschaftliche Integrität preisgeben oder geschickt zu lavieren versuchen,  sind Fragen, bei deren Beantwortung man der Vielschichtigkeit und Komplexität von Akteursgeflechten und damit auch graduellen Abstufungen Rechnung tragen muß.

Tendentiell scheint mir allerdings folgendes zu gelten: Je mehr Wissenschaft auf ihren eigenen Wertmaßstäben und entsprechend differenzierten, ausgewogenen Betrachtungsweisen besteht, desto weniger wird sie sich für eine demagogische Instrumentalisierung durch politische Kreise eignen, werden ihr sperriger Charakter und ihre Widerhaken sie vor unguter Vereinnahmung schützen. Je unseriöser, flacher und unausgewogener die Kritik an westlichen Machtstrukturen und je geringer ihr intellektuelle Berechtigung ist, desto leichter wird es umgekehrt sein, sie in schlicht gestrickte Freund-Feind-Schemata einzufügen und aus ihr für die internationale Querfront und deren Propagandastrategien Gewinn zu schlagen. In dem Maße, wie Wissenschaftler sich der Blocklogik des "enemy mine" ergeben, mögen deren  intellektuelle Interventionen zwar nach außen hin noch als "mutig" und "subversiv" gegenüber der eigenen Gesellschaft erscheinen, geraten aber de facto zu unterwürfig-zahmen, zweckrationalen wie opportunistischen Veranstaltung, mit der der nunmehrige "agent of influence" die eigenen Karriere- und Machtinteressen beschützt und fördert.

Resümierend läßt sich sagen: "9/11 and American Empire: Intellectuals Speak Out" transportiert bereits mit seinem Titel das Bild unerschrockener Intellektueller, die ungeachtet persönlicher Konsequenzen dafür eintreten, daß die Öffentlichkeit von verdeckten Machenschaften auf höchster Ebene erfährt. Jedoch ist nicht nur das intellektuelle Niveau, das von Beiträgen wie dem Daniele Gansers gesetzt wird, enttäuschend. Die Vernetzungen mit globalresearch wie auch weitere Verbindungslinien, die direkt nach Rußland führen, sorgen für eine kompromittierende Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Politik. Letzendlich bewirkt diese gerade das, wogegen die sogenannten kritischen Intellektuellen angetreten sind: eine Unterminierung wissenschaftlicher Autonomie und die Entstehung eines entsprechenden politischen Subtextes in Werken mit wissenschaftlichem Anspruch.

Die Tatsache, daß einer der beiden Herausgeber von "Intellectuals Speak Out" wenige Jahre später im Gespann mit Daniele Ganser bei einem neo-eurasischen Kreisen nahestehenden Institut mit zweifelhaftem Profil als prominenter Referent erscheint, wirft zumindest die Frage auf, wie weit diese Kooperation geht und wie weit sie in die Vergangenheit zurückreicht.

Ein weiterer Stein des Anstoßes? Der Baseler Vortrag zu 10 Jahren 9/11


Eingangs wurde auf einen von Daniele Ganser am 1.9.2011 an der Universität Basel gehaltenen öffentlichen Vortrag zum 10. Jahrestag von 9/11 hingewiesen. Ganser will aufgrund dieses Vortrags von der Universitätsleitung einen Brief erhalten haben, der auf eine Beschneidung seiner Forschungs- und Meinungsfreiheit abgezielt habe. Auch hier möchte ich einen prüfenden Blick auf die wissenschaftliche Qualität des fraglichen Vortrags werfen und mich der Frage nähern, inwiefern eine Intervention von Seiten des Rektors berechtigt oder nicht berechtigt gewesen sein mag - ungeachtet der Frage, ob Ganser den Vorfall auch korrekt geschildert hat. 

Tatsächlich hat Ganser zumindest in einem formalen Sinne recht, wenn er die Veranstaltung als eine akademische schildert. Der Vortrag des schweizer Historikers wurde von der prestigeträchtigen Universität Indiana als "Public Lecture" im Rahmen von "Making War, Making Peace", einer interdisziplinären Veranstaltung für Studierende der unteren Semester, angekündigt.


Ankündigung von Gansers "Public Lecture" auf den Seiten von Indiana University Bloomington



Organisatoren auf amerikanischer Seite waren (dem Vortrag Gansers zu entnehmen) Byron Bangert, Ethikberater und Theologe/Religionswissenschaftler, Prof. Heather Reynolds, eine Biologin und Prof. Curt Lively, ein weiterer Biologe. D.h. die Veranstalter entstammen allesamt Disziplinen, die einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Terroranschlägen, deren medialer Verarbeitung und einer Aufarbeitung des außenpolitischen Kontextes inhaltlich wie methodisch fernstehen. Dafür aber sind alle drei Organisatoren in der Truther-Bewegung engagiert. Bangert wird auf einer einschlägigen Seite als "truth advocate" benannt, Reynolds gehört zu den "Scientists for 9/11 Truth" und ihr Kollege Lively ebenfalls. Von einer paritätisch besetzten Initiative zur Verständigung über 9/11 kann somit nicht die Rede sein.


Ganser spricht von einem "international research project" und nennt seinen Vortrag im Untertitel auch "A historical investigation".  Er tritt eindeutig in seiner Rolle als Historiker auf, hält seinen Vortrag an der Universität Basel selbst hält. Damit entsteht zwangsläufig der Eindruck, daß er hier nicht als Privatperson über seine persönlichen Ansichten spricht, sondern daß als Vertreter einer wissenschaftlichen Institution akademisches Wissen vermittelt. Ganser  betont in seiner Einleitung,  daß es ihm darum ginge, die verschiedenen Geschichten, die zu 9/11 existierten, zu betrachten, schwenkt aber dann sogleich um zu seinem Anspruch, als Historiker, "die Wahrheit" eruieren zu können:
"[...] we have a lot of different stories circulating on the topic of 9/11. And I am a historian and you must know that in the end history is written by historians. So it is really our task at the end of the day to say what happened. And that is really difficult. That's what I have to say."

Die drei Theorien, so Ganser, könnten nicht alle gleichzeitig wahr sein, er selbst wüßte nicht, welche von ihnen wahr sei und könne auch nur zu dem Schluß kommen, daß mehr Forschung vonnöten sei. Was er in seiner Vorlesung tun könne sei, den Stand der Debatte zu skizzieren und zu erklären, warum und wie diskutiert würde. Eine definitive Antwort auf die Frage, welche Theorie "wahr" sei, sei, so argumentiert Ganser, aus folgenden Gründen ungemein wichtig: 
"It is very important, I am very strongly convinced, because peace research must tackle the issue of 9/11. What is peace research? Peace research is not an established doctrine at Basel university or many other universities. You can't go there and say I would like to have a master, a bachelor or a doctor degree in peace research. You can't do that. So you can have a doctor in history like I have. But historians are very interested in questions of war and peace. And generally if we look at 9/11 we obviously see it has to do a lot with international peace and war events. So those people who are interested in the promotion of peace, and there is a lot of people on the globe, believe me, they are interested to know what happened on 9/11. Furthermore 9/11 is important because right after 9/11, that is only three weeks after 9/11, we have the start of the war in Afghanistan. [...]And if we debate the war in Afghanistan, we can only debate it in the context of 9/11."

Die Art und Weise, wie Ganser hier vorgibt, für die wissenschaftlichen Ansätze und politischen Anliegen einer von ihm so eigenmächtig wie eigenwillig definierten "Friedenswissenschaft" zu sprechen, ist abstrus. Ob Ganser selbst einen akademischen Hintergrund in Friedens- und Konfliktforschung hat oder lediglich einen Abschluß als Historiker, welche Studienprogramme an der Universität Basel und an "vielen anderen Universitäten" angeboten werden hat, mag zwar gansersche Bildungslücken erklären, ist in Bezug auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer akademischen Disziplin bzw. eines akademischen Forschungsgebietes schlicht irrelevant.

Konfliktforschung und Internationale Friedens- und Konfliktforschung existieren sehr wohl als eigenständige, wenn auch oftmals interdisziplinär angelegte Felder - in der universitären Forschung wie in der Lehre. Die in diesen Feldern gebräuchlichen Theorien, Methoden, Hypothesen und sonstigen wissenschaftsgeschlichtlichen Traditionen hat ein Wissenschaftler, der sich seriös auf diesem Terrain betätigen möchte, zu kennen und zu beachten. Bei Ganser ist von einer solchen Auseinandersetzung mit dem Wissensstand des jeweiligen Forschungsfeldes nichts, aber auch gar nichts zu sehen, er scheint  auf beliebige Weise und ohne jeglichen akademischen Tiefgang (d.h. vor allem auch ohne erkennbare Methodik) seine eigene "Friedensforschung" aus der Taufe heben zu wollen.

Falls es tatsächlich Gansers Anliegen gewesen wäre, zwischen unterschiedlichen Deutungen von 9/11 zu vermitteln und damit auf eine inneramerikanische Bewältigung und Versöhnung hinzuarbeiten, so hätte es nahegelegen, sich nach vergleichbaren Projekten umzuschauen, auf echte "Wahrheitskommissionen" wie etwa die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission Bezug zu nehmen, deren Vorgehensweisen, Erfolge und Schwachstellen zu erkunden und auf Übertragbarkeit zu prüfen, um darauf aufbauend dann ein eigenes Programm zu entwickeln. Der Vergleich mag absurd klingen, zeigt damit aber auch, wie weit die Aktivitäten Gansers von tatsächlicher friedenspolitischer Arbeit entfernt sind.

Des weiteren behauptet Ganser zwar, 9/11 könne nur im Verein mit dem Afghanistankrieg diskutiert werden, hat selbst aber auch keine systematische Untersuchung dazu zu bieten, wie Prozesse politischer Entscheidungsfindung und öffentlicher Meinungsbildung im Vorfeld des Afghanistankriegs mit den Terroranschlägen des 11. September zusammenhängen. Dabei hätte ihm hierfür sicherlich sehr viel besseres Quellenmaterial zur Verfügung gestanden  und wäre der Umgang hiermit sehr viel eher in den Arbeitsbereich eines Historikers gefallen als die Beschäftigung mit einstürzenden Gebäuden und den chemischen Komponenten diverser Sprengstoffe. Sprich: Ganser hält sich bei Spekulationen zu gerade denjenigen Aspekten von 9/11 auf, zu denen er in seiner Funktion als Historiker und anhand des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials kaum Sinnvolles beisteuern kann.


Ein verpaßtes Forschungsthema
Nur einmal ist im Laufe von Gansers Vortrags kurz von "Semantik" die Rede. Quasi en passant erwähnt Ganser, daß die im Irak stationierten Truppenangehörigen ihrer eigenen Aufgabe unter Bezugnahme auf 9/11 Sinn verliehen. Illustriert wird diese Passage mit einen Soldatenhelm mit eingravierten WTC-Türmen. Dann Ganser erwähnt noch eben schnell eine Umfrage unter US-Soldaten, der gemäß diese merheitlich glaubten, ihre Aufgabe im Irak sei eine Vergeltung von 9/11, und schon ist auch dieser thematische Strang an seinem Ende angekommen. Dabei wäre es durchaus interessant gewesen, Sinngebungsprozesse innerhalb des amerikanischen Militärs und die Entstehung einer entsprechenden Soldatenkultur (materiell wie immateriell) zu untersuchen. Es hätte sich hier einer von vielen möglichen wissenschaftlichen Zugängen zur 9/11-Thematik geboten, für die sich sowohl geeignetes Untersuchungsmaterial als auch ein passendes theoretisch-methodisches Instrumentarium hätte finden lassen, aber Ganser scheint auch dies nicht wirklich zu interessieren. Statt dessen kehrt er auf eine überaus krude, vorwissenschaftliche Betrachtungsebene zurück und konstatiert, daß mangelnde Informiertheit wie im Falle der US-Soldaten im Irak dazu führen könne, daß man in einem Krieg ende, sein Leben verliere und daß dies tragisch sei. 

Ganser kommt von da aus denn auch direkt auf die "Irakkriegslüge" der US-Regierung zu sprechen und behauptet, daß im Zuge des hierdurch erzeugten Mißtrauens viele Menschen sich rückwirkend gefragt hätten, ob auch 9/11 eine Lüge gewesen sei. Was die Denkfigur des "Mißtrauen" betrifft, so wird diese nicht akademisch gefaßt und erläutert, d.h. Ganser untersucht nicht, wie und mittels welcher Faktoren Vertrauen aufgebaut wird oder verloren geht  er stellt lediglich Behauptungen in den Raum. Die Frage, inwiefern dieses "Mißtrauen" tatsächlich als mehr oder weniger direkte Folge unzureichender US-Regierungspolitik anzusehen ist, bleibt ungestellt und unbeantwortet.

Noch problematischer aber ist: Ganser erweckt hier auf einigermaßen unredliche Weise den Eindruck, die Truther-Bewegung sei als Folge des Irakkriegs entstanden. Ein solcher historische Zusammenhang bleibt jedoch nicht nur unbelegt, sondern ist nachweislich falsch: Die Truther-Bewegung ist weit vor der amerikanischen Invasion in den Irak aufgekommen (zu den Truthern der ersten Stunde siehe etwa auch untenstehenden Abschnitt zu Nico Haupt). Für den Fall, daß Daniele Ganser der Meinung ist, der Irak-Krieg habe einer bereits vorhandenen Trutherbewegung weiteren Auftrieb verliehen, hätte er dies in seiner Verantwortung als Wissenschaftler klarer formulieren müssen. Mein bisheriger Eindruck allerdings ist, daß Ganser oft bewußt schwammig und für verschiedene Deutungen "offen" formuliert, um einerseits für die Truther-Bewegung und das rechtsesoterische Spektrum anschlußfähig zu sein und gleichzeitig für den sogenannten "Mainstream" offen zu bleiben. 

Unter weitgehendem Verzicht auf eine wissenschaftliche Argumentationsführung präsentiert Ganser auch die "politics of fear" als eine seiner zentralen Thesen. Bei "politics of fear" handele es sich um ein Mittel, um ansonsten unpopuläre Kriege führen zu können. So wie man Menschen eine (konstruierte) Gefahr vor Augen führe, erwache in diesen Angst und steige damit auch ihre Bereitschaft zur Kriegsführung. Tautologisch schiebt Ganser hinterher: "that's how it works".

Hier wird deutlich: Ganser reißt in schneller Folge recht unterschiedliche Forschungsgebiete an und reiht (vermeintliche) Fakten und Erkenntnisse aus den entsprechenden Gebieten lose aneinander. Er nimmt weder in nachprüfbarer Weise Bezug auf entsprechende wissenschaftliche Forschung noch findet er zu einer eigenen, in sich schlüssigen Themenstellung. Was er an Thesen und Themen aufgreift, wird von ihm selten zu Ende geführt. Häufig kommt Ganser mit dieser Herangehensweise denn auch nicht wesentlich über Gemeinplätze, tautologische Argumentationslinien und vulgärpsychologische Annahmen hinaus.

Auch seine Darstellung der geschichtswissenschaftlichen Profession gestaltet sich in diesem Vortrag erneut überaus klischeehaft und hat wenig mit einer realitätsnahen Erläuterung der Arbeitsweisen von Historikern zu tun. So stilisiert er die Figur des Historikers zu einer Art Schiedsrichter und zeichnet damit bisweilen ein schon grotesk zu nennendes Zerrbild der Methoden seines Fachs: 
"And as a historian, I am in-between, ok? I listen to people what they say, and I try to find facts about all the events that have been happening during the last 10 years."

"And we are, you know, as researchers torn to this side torn that side and it is really difficult."

"It's again a question of whether you trust them. That is really the question, if as a historian, you have have to make up your mind, you have to always find out whom do you trust."

"And you know, the problem is, when we look at sources then we always check is that source trustworthy. And the problem with George Bush is, that he lied about the Irak war, so his trustworthyness is reduced. He is still an important source, because he is the president.

"But as historians we are trained to question presidents and prime ministers, ok? Always, because we say if there is a lot of power, there is a lot of abuse of power, ok? That's our training."

Überhaupt geht es Ganser, wie im vorletzten zitierten Ausschnitt bereits anklingt, oftmals weniger um wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, denn um ein Festlegen von Gut und Böse. Er bedient sich einer moralisch aufgeladenen, verkürzten Argumentation und apelliert damit an Emotionen anstatt die von ihm behauptete wissenschaftliche Distanz zu suchen.

Auf ähnlich verzerrende und verkürzende Weise greift Ganser sich im Anschluß einzelne Exponenten der Truther-Bewegug als "Belege" dafür heraus, daß es in den USA eine große Debatte um 9/11 gebe. Auch hier führt er den emeritierten David Ray Griffin als Beispiel an tätigt Anspielungen auf ein repressives, auf Zensur bedachtes Umfeld. Er bedient sich der Person Griffins, um zu argumentieren, daß das Ausscheiden aus dem akademischen Betrieb manchmal erst für diejenigen Freiräume sorge, die für kritische wissenschaftliche Forschung nötig seien. Gansers eingangs gegebenes Vesprechen, auf wissenschaftliche Weise darzulegen, was von wem wie diskutiert wird, löst er bei der Besprechung seiner drei "Verschwörungstheorien" nicht ein - auch deswegen nicht, weil er sich immer wieder auf der ereignisgeschichtlichen Ebene des "wie es wirklich gewesen war" verfängt.

Für einen Großteil des restlichen Vortrags wendet sich Ganser statt einer Diskursanalyse tyischen Truther-Fragen zu: Was war mit WTC 7, wurde es gesprengt? Wie hat man vor diesem Hintergrund die Anordnung "pull it" zu verstehen? War es wirklich ein Flugzeug, das ins Pentagon einschlug, oder doch etwas anderes? Warum setzte man vor den Anschlägen in Form von "put options" auf fallende Aktienkurse der betroffenen Fluggesellschaften, war jemand im Voraus über die Anschläge informiert worden? Charakteristisch für die Vorgehensweise von Truthern ist auch, wie Ganser tausendfach durchgekaute Details und "Fakten" als wenig bekannte, überraschende und geradezu subversive Einsichten aus dem Ärmel zaubert. Beim Thema "Pentagon" bezieht Ganser sich u.a. auf Thierry Meyssan und dessen Behauptung, auf der Rückseite des Pentagon habe es ein Loch, d.h. eine Austrittsöffnung gegeben. Ganser meint hierzu: 
"And as historians we would like to go back to the Pentagon and look at that hole. But obviously you can't do that because it has all been reconstructed."

Ganser erklärt Thierry Meyssans These des "Austrittslochs"
Daß Historiker ihre Aufgabe darin sähen, höchstpersönlich Löcher in Gebäudefassaden in Augenschein zu nehmen, dürfte die meisten meinr Kollegen wohl ebenso überraschen wie mich. Nicht minder spannend wäre es gewesen zu erfahren, wie Ganser aus der Eruierung von Gebäudeschäden auf die politischen Hintergründe von terroristischen Anschlägen und deren Drahtzieher hätte schließen können und vor allem, welche geisteswissenschaftlicen Methoden hierbei zum Einsatz gekommen wären. Ganser selbst klagt über das niedrige Niveau, auf dem die 9/11-Debatte geführt werde - und meint damit die Tatsache, daß nicht allen Menschen die Anzahl der eingestürzten WTC-Gebäude (drei!) und die Anzahl der angreifenden Flugzeuge (lediglich zwei!!!) bekannt sei.


Immer wieder ist Gansers Vorgehen suggestiv und läßt den Eindruck entstehen, daß er einer klar verschwörungsideologische Positionierung weniger aufgrund wissenschaftlicher Überlegungen und seiner intellektuellen Überzeugungen ausweicht, sondern um sich nicht  angreifbar zu machen. So suggeriert er etwa auf verschwörungsideologische Weise einen Zusammenhang zwischen einem möglicherweise vorhandenen konspirativen Wissen von amerikanischen "special forces" und amerikanischen Geheimdiensten um die Urheber von 9/11 und der Tötung  Osama bin Ladesn. Osama bin Laden, der die Frage der historischen Verantwortung für 9/11 hätte klären können, sei ja nun tot.

Ganser fragt "Do we have anybody else, anybody else who can confirm what happened on 9/11?" und benennt Khalid Scheikh Mohammed als möglichen Mitwissenden. Dieser aber, so Ganser, sei möglicherweise in Guantanamo gefoltert worden, seine Aussagen zu seiner eigenen Verwicklung in die Anschläge von 9/11 stellten damit keine akzeptablen Beweise dar. D.h. Ganser reiht hier fein säuberlich diejenigen "Indizien" auf, die für eine Verschwörung amerikanischer Regierungskreise sprechen. Er legt damit, ohne es selbst direkt auszuprechen, den Schluß nahe, daß Osama bin Laden nicht als international gesuchter Drahtzieher einer Terrorgruppe getötet worden sei, sondern weil er eine der raren verläßlichen Quellen zu den Hintergründen von 9/11 gewesen sei und als solche ausgeräumt werden sollte.

Am Ende seines Vortrages wird Ganser das "Fazit" ziehen, die Bezeichnung "Verschwörung" würde falsch verwendet mit der Absicht, alle zu diskreditieren, die die offizielle Version hinterfragten.


LIHOP und MIHOP - Gansers Terminologie und ihre Herkunft

Quelle: Rhetorik....
Zu einer wissenschaftlichen Arbeitsweise gehört für gewöhnlich auch der Gebrauch einer speziellen Terminologie. Ganser bietet im Zuge seiner Beschäftigung mit 9/11 die Begriffe "LIHOP", "MIHOP" und "Surprise" an. Daß er hiermit drei verschiedene "Theorien" bzw. Geschichtsbilder meint, ist aus den obigen Ausführungen bereits hervorgegangen. Ebenso ist üblich, man bei zentralen Konzepten auch auf deren Entstehungskontext verweist und ihre(n) Urheber benennt. Ganser tut dies nicht, weswegen ich dies hier an seiner Stelle nachholen werden. Woher also stammen MIHOP und LIHOP und welchen akademischen Stellenwert besitzen sie?

Die Akronyme LIHOP und MIHOP stammen keineswegs Ganser selbst, lediglich "Surprise" als Bezeichnung der "offiziellen Version" könnte von ihm eingeführt worden sein. LIHOP und MIHOP sind in Truther-Kreisen mittlerweile allgemein gebräuchlich und wurden geprägt, bevor Ganser mit der 9/11-Theamtik öffentlich in Erscheinung getretenwar. Als ihr Urheber gilt der in den USA lebende Deutsche Nico Haupt, der ein Skeptiker der ersten Stunde war und die "Wahrheitsbewegung" mitbegründet haben soll.

Die verschwörungskritische Webseite "Screw Loose Change" sieht in Haupt  jemanden, der noch vor David Ray Griffin die Szene maßgeblich geprägt habe: "There are not five people in the 9-11 "Truth" Movement who have been more significant than Nico Haupt." Selbst Griffin gehe eher synthetisierend vor und baue in großem Maße,  wie auch Webster Tarpley,  auf das bereits von Haupt Zusammengetragene (um hier den Begriff der "Recherche" zu vermeiden). Gleichfalls wird auf dieser Seite dargelegt, daß es wenig abgefahrenere Truther als Nico Haupt gebe und er mit einem Großteil der 911-Community zerstritten sei. Nico Haupt vertritt u.a. die sogannannte "No Planer"-These, d.h. er geht davon aus, daß es gar keine Flugzeuge gegeben habe, die in das WTC gerast seien, sondern es sich selbst bei den Flugzeugbildern um eine Täuschung der Öffentlichkeit gehandelt habe.

Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte Nico Haupt bereits im Jahr 2002 einen eigenen Artikel gewidmet. In ihm wird der Deutsche, der wie viele andere Truther auch sich selbst nicht als Verschwörungstheoretiker begreift, wie folgt charakterisiert: 
"Er sieht sich als Bannerträger eines untergegangenen investigativen Journalismus, doch was er an Antworten bereit hält, sind wilde Theorien über Geheimagenten, Hintermänner und dunkle Regierungskanäle."

Zu Haupts Biographie bzw. Werdegang weiß der Spiegel folgendes zu berichten:

Nico Haupt (Quelle: "Who is Nico Haupt?")
"Er wuchs in Düsseldorf auf, war zehn Jahre lang Moderator einer lokalen Radiosendung ("Ecstasy", später umbenannt in "Netzkraut"). Bereits 1993 entdeckte er das Internet. Seit 1996 darf er sich Diplom-Medienpädagoge nennen, was ihm aber peinlich ist. 1998 gründete er in Nordrhein-Westfalen den Landesverband von Chance 2000, der Spaß-Partei von Christoph Schlingensief. Auf der Landesliste für die Bundestagswahl war Haupt sogar Spitzenkandidat, er stand auf demselben Wahlzettel wie Franz Müntefering, Guido Westerwelle und Norbert Blüm. 

Vor drei Jahren kam er nach New York, "wegen der damaligen Internetsituation". Er nannte sich Netzkünstler (zu seinen "Projekten" zählte unter anderem das elektronische Schreddern der Big-Brother-Webseite) und arbeitete für Josh Harris bei Pseudo.com, dem inzwischen Pleite gegangenen ersten Internet-Fernsehsender. Ab und zu schrieb er für das Online-Magazin "Telepolis" und das deutsche Magazin für Cyberkultur, "De:Bug". Jetzt schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten als Programmierer durch.


Tatsächlich lassen sich auf Heise/Telepolis auch heute noch eine ganze Reihe von Artikeln von Nico Haupt aus den Jahren 1999-2000 abrufen. Ich merke das hier an, da diese Webseite generell einen leichten Hang zu Querfront-Inhalten und Verschwörungstheoretikern zu haben scheint und sie mir während der Recherche zu Gansers Netzwerken noch an anderer Stelle begegnet ist (dazu später mehr). Auch verweist der Werdegang Haupts darauf, daß es zu kurz greifen würde, die Truther-Bewegung als gesellschaftlich und politisch marginale Kleingruppen von Spinnern abzutun. Bei 9/11-Verschwörungsideologien handelt sich denn doch um ein Phänomen mit einem größeren Einzugsbereich, dessen Breitenwirkung und politische Relevanz anzuerkennen sich aber viele nicht verschwörungsideologisch denkende Zeitgenossen schwer tun. Anstatt das Phänomen als solches zu analysieren, wird es leider immer noch viel zu häufig mit Spott und einem schrägen Lächeln als gesellschaftlich belanglos abgetan. Möglicherweise ist dieses Abwiegeln auch Ausdruck von Angst und Ratlosigkeit angesichts einer aktuell zu beobachtenden steten Ausbreitung von Verschwörungstheorien. Verschwörungsideologisches Denken kann oftmals kaum noch mit den uns bekannten fakten- und logikbasierten Argumentationsformen kontrahiert werden und droht damit  unser Vernunftmodell zu entwerten.

Ganser selbst zeigt sich ahnungslos, was die Herkunft seiner Terminologie betrifft. In einem Interview mit der Truther-Webseite "911-archiv.net" zu seinem jüngsten Buch "Europa im Erdölrausch" wird der Schweizer Historiker gezielt nach Nico Haupt gefragt:

"Da auch Sie diese Begrifflichkeiten verwenden, ist Ihnen bekannt, dass die Begrifflichkeiten von Nico Haupt ins Leben gerufen worden sind, der die letzten Jahre hauptsächlich damit auffiel, immer verwirrter zu werden und andere Menschen gewalttätig anzugreifen. Könnte es sein, dass mit diesen Trennungen Lagerverhalten und Streitigkeiten provoziert werden sollen? [...]"

Ganser antwortet:
"Ich unterscheide bei den verschiedenen Geschichten zu 911 immer zwischen SURPRISE, LIHOP und MIHOP, wo in den USA diese Begriffe zum ersten Mal aufgetaucht sind, weiß ich nicht. Ich finde diese Unterscheidungen wertvoll, weil sie drei verschiedene Geschichten zeigen, die nicht gleichzeitig wahr sein können. Vergessen Sie nicht: Die Geschichtsschreibung muss sich auf eine Version festlegen in Zukunft. Was wollen wir unseren Kindern und Enkeln erzählen, wenn sie fragen, was am 11. September 2001 passierte?"


Hierin kommt nicht nur Gansers schlampiger Umgang mit Begrifflichkeiten zum Ausdruck, sondern  zum wiederholten Male auch ein methodologischer Grundwiderspruch in seiner Vorgehensweise: Einerseits legitimiert Ganser seine Beschäftigung mit "LIHOP", "MIHOP" und "Surprise" immer wieder damit, daß diese unterschiedlichen Erzählungen nun mal existierten, man "als Historiker" den Menschen zuhören und die verschiedenen Deutungsschemata als prinzipiell gleichwertig untersuchen müsse. Andererseits lehnt er sich dann aber doch an den Historizismus des 19. Jahrhunderts an und fragt mit einem Leopold von Ranke "wie es eigentlich gewesen" sei und vergißt obendrein die zu diesem letzteren geschichtswissenschaftlichen Ansatz gehörende Quellenkritik.

Ganser bedient sich hier eines postmodernen Mäntelchens für ein ebenso reaktionäres wie unwissenschaftliches Projekt. Hinzugefügt sei, daß sich Ganser andernorts auch explizit auf postmodernes Vorgehen beruft, dieses aber auch dort nicht einlöst bzw. er sich im unmittelbaren Kontext dieser Aussage selbst bereits in methodologische Widersprüche verstrickt:
"Ich bin enttäuscht, dass Medien legitimen Fragen zum Hintergrund von 9/11 nicht stärker nachgegangen sind. Nach dem Motto: Es war Bin Laden und alle anderen Fragen sind Idiotenfragen. Das postmoderne wissenschaftlich-analytische Denken hat schließlich hervorgebracht, dass man die Pluralität von Stimmen analysiert. Bei diesem Thema wird das negiert. Entweder du bist für uns oder du bist gegen uns."

Selbst wenn man im Rahmen der klassischen Geschichtswissenschaft verbleiben wollte, ist der oben zitierten Aussage Gansers, Geschichtsschreibung müsse sich auf eine Version festlegen, nicht zuzustimmen. Aufgabe einer klassischen Ereignisgeschichte ist es, das zu schildern, was sich anhand von Quellenlage und zur Verfügung stehender Fakten eruieren läßt und strittig und unklar Bleibendes auch als solches zu präsentieren. 

Falls es Ganser tatsächlich in Anlehnung an die (post-)modernen Kulturwissenschaften um Geschichte als "Erzählung" bzw. miteinander rivalisierende Erinnerungsformen und Sinngebungsprozesse ginge, dann wäre eine Betrachtung bzw. Analyse von Erzählweise, Darstellungsform, Interpretationsmustern und somit auch ein Fokus auf Sprache im engeren Sinne unerläßlich. Als Historiker hätte sich Daniele Ganser hier durchaus auf prominente Vorarbeiten beziehen können, etwa auf Hayden Whites 1973 erschienene "Metahistory". Hieran angelehnt hätte Ganser untesuchen können, inwieweit sich unterschiedliche 9/11-Versionen den vier Erzählweisen der Romanze, Tragödie, Komödie und Satire zuordnen lassen, ob es sich bei der jeweils zugrundeliegenden Welterklärungsform um ein formatives, organizistisches, mechanistisches oder kontextualistisches Modell handelt und welcher Tropen sich die diversen Erzählungen bedienen.

Ganser übernimmt seine LIHOP-MIHOP-Terminologie jedoch direkt aus der Truther-Bewegung, die er doch eigentlich mit der gleichen kritischen Distanz, mit der er an die "offizielle Version" herangeht,  auf möglichst neutrale Weise untersuchen sollte. Daß diese Terminologie aufgrund ihrer Herkunft automatisch für eine 9/11-Diskursanalyse eine völlig unbrauchbare Einteilung liefern würde, möchte ich damit nicht behaupten, entscheidend ist vielmehr, daß Ganser mit der unmittelbaren Übernahme einer Innensicht nicht die Frage nach der wissenschaftlichen Halt- und Begründbarkeit dieser Einteilung stellt.  Er scheint sich nicht einmal Gedanken darüber zu machen, wie diese Klassifikation gekommen sein ist, ob sie auf deduktiver oder empirischer Grundlage beruhen soll und nicht einfach dem persönlichen Gusto einiger Truther der ersten Stunde folgt. Daß jemand, der vorgibt, als Historiker unterschiedliche 9/11-Erzählungen untersuchen zu wollen, nicht bemüht ist, die Herkunft dieser Terminologie festzustellen und sich insbesondere mit der Rolle Nico Haupts in der "Wahrheitsbewegung" zu beschäftigen, illustriert denn auch das eigentliche Desinteresse Daniele Gansers daran, wie diese unterschiedlichen, einander widerstreitenden Deutungsversionen entstanden sind.    


Interessant mit Hinblick auf den "Wissenstransfer" zwischen Haupt und Ganser ist letzedlich auch, daß Haupt bereits im Jahr 2002 - belegbar anhand des bereits erwähnten Spiegel-Artikels - einen argumentativen Zusammenhang herstellte zwischen 9/11 als "False Flag"-Manöver und der nicht realisierten "Operation Northwoods" aus dem Jahr 1961. Gansers Beitrag zu "Intellectuals Speak Out" bietet im Jahr 2006 eine weitestgehend deckungsgleiche Argumentationsweise; einen Beleg für eine frühere Bezugnahme auf Northwoods habe ich in den Texten und Interviews Gansers bisher nicht auffinden können. Möglicherweise hat Ganser also auch dieses Argumentationsmuster direkt aus der Truther-Bewegung übernommen.

Verschwörungstheorien als Forschungsthema

Wie oben bereits mehrfach angerissen geht Ganser bei seinen Auführungen zu 9/11 generell von der Behauptung aus, alle Auseinandersetzung mit 9/11 sei "Verschwörungstheorie". Sobald an einem Attentat mehr als ein Täter beteiligt sei und es im Vorfeld eine geheime Überkeinkunft gegeben habe, handele es sich um eine "Verschwörung". Somit argumentiere auch die "offizielle Version" der amerikanischen Regierung verschwörungsideologisch, da sie von einer islamistischen Verschwörung der Attentäter ausgehe. Hiermit sucht Ganser auf rhetorisch geschickte Weise, dem Ruch des Verschwörungsideologen zu entkommen und präsentiert sich als seriöser Historiker, der lediglich bestrebt sei, alle möglichen Tathergänge zu berücksichtigen und 'alle drei Theorien' auf gleichberechtigte Weise zu untersuchen. Ganser profitiert hier jedoch von einer Begriffsverwirrung bzw. einer begrifflichen Unschärfe.


Was Ganser so gerne als "drei unterschiedliche Theorien" bezeichnet, sind keine Theorien im wissenschaftlichen Sinne. Es handelt sich bei dem, was LIHOP, MIHOP und Surprise bezeichnen soll, zunächst schlicht um unterschiedliche Hypothesen darüber, auf welche Art von Konspiration die Anschläge von 9/11 zurückzuführen seien. Gedacht werden diese von Ganser als Zentralsteuerungshypothesen, d.h. er geht, ohne dies in irgendeiner Weise sozialwissenschaftlich zu reflektieren, von einer bewußten Planung und expliziten Entscheidungen von Seiten einer Gruppe von Konspirateuren au. Derartige Hypothesen werden dann im Zuge einer unsachlichen Auseinandersetzung und weiteren unzulässigen Verengungen, wie sie auch Ganser vornimmt, zur Verschwörungsideologie. Dies hätte unser Schweizer Historiker und Friedensforscher auch bereits auf Wikipedia unter "Verschwörungstheorie"- "Merkmale und Haupttypen" nachlesen können (im Original vorhandene links wurden von mir entfernt): 
"Aber auch der Wortteil Theorie ist irreführend: „Theorie“ bezeichnet eine modellhafte, korrekturfähige Vereinfachung der Wirklichkeit, die von Einzelereignissen oder Umständen abstrahiert, um übergreifende Zusammenhänge zu beschreiben. Genau das leistet eine Verschwörungstheorie aber nicht, da sie zwar vereinfachende Muster anbietet, aber kein Modell:[...]

Verschwörungstheorien leisten keine Abstraktion, sondern nehmen im Gegenteil eine Konkretisierung vor, die unzulässigerweise verallgemeinert wird. Während die Abstraktion Komplexität erhält und nur die Beobachtungsebene verändert, ist die unzulässige Konkretisierung verlustbehaftet. Die nachgelagerte Verallgemeinerung basiert auf einer Vereinfachung bzw. Vereindeutigung (Disambiguierung)."


Im Grunde bedient sich Ganser mit seiner Gleichsetzung von "Hypothese", "Ideologie" und "Theorie" also einer Art Taschenspielertrick und weicht damit einer Überprüfung seiner Ausführungen auf Merkmale verschwörungsideologischen Denkens aus. Der Begriff der "Zentralsteuerungsypothese" taucht in den Arbeiten Gansers nicht einmal auf, dementsprechend bemüht sich Ganser auch von vornherein nicht, eine im konkreten Kontext unter Umständen nicht leicht zu treffende Trennung vorzunehmen zwischen Hypothesen, die sich auf eine mögliche reale Verschwörung beziehen und verschwörungsideologischem Denken, das sich zunehmend von Faktenbezug und Nachprüfbarkeit entfernt. 

Nemen wir, auch wenn man sich als Intellektuelle(r) ein erbaulichereres und ergiebigeres Betätigungsfeld wünscht, für einen Moment LIHOP ("Let it happen on purpose") als Hypothese über einen möglichen Tathergang ernst und spielen wir ihre mögliche Verifizierung durch - schließlich beklagen sich die Truther ja stets, daß sie nicht ernst genommen würden und man ihnen eine sachliche Auseinandersetzung mit ihren Ansichten schuldig bliebe. Ziehen wir also in Erwägung, daß bestimmte Institutionen, Organe, Ebenen des amerikanischen Staates vorab über die Anschlagspläne der Attentäter informiert waren und diese ungehindert zur Tat schreiten ließen, etwa, ebenfalls hypothethisch, aufgrund interner Dynamiken, ungeklärter Kompetenzen und auch Rivalitäten zwischen den verschiedenen amerikanischen Geheimdiensten, dem Parlament, dem Pentagon und dem Weißen Haus. 

Um  einen solchen Verdacht zu überprüfen, wäre es unabdingbar, ausreichend Belege für dieses vorherige Informiertsein, d.h. im Regelfall schriftliche Quellen, Korrespondenz der involvierten Behörden, Gesprächsmitschnitte oder zumindest Zeugenaussagen aufzutreiben und anhand dieser festzustellen, wer wann woher welche Erkenntnisse hatte und diese aus welchen Gründen weiterleitete oder zurückhielt, um dann in einem zweiten Schritt zu analysieren, inwiefern hinter diesen Abläufen tatsächlich eine einheitliche Absicht und zentrale Planung und Lenkung stand...

In Bezug auf Ersteres fehlen Ganser die hierzu notwendigen Quellen, in Bezug auf Letzteres fehlt Ganser, wie anhand seiner bisherigen Arbeiten (siehe etwa die obige Kritik an Gansers Sammelband-Aufsatz sowie die untenstehende Kritik an seiner verkürzenden Sicht auf die NATO-Geheimarmeen) bereits deutlich geworden ist, das hierzu notwendige Vermögen bzw. die Bereitschaft, zwischen verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen zu differenzieren, sowie ein Verständnis für die Dynamiken, die sich aus der Interaktionen unterschiedlicher Akteure ergeben. 

Ganser und andere mögen Fragen nach einer möglichen Beteiligung der amerikanischen Regierung an den Anschlägen von 9/11 noch so spannend finden: Will man bei diesem Thema über bloße Unterstellungen und Spekulationen, wie sie jeder x-beliebige Laie auf der Straße oder vom heimischen Bildschirm aus treffen könnte, hinausgehen und erhebt man, wie Ganser das tut, den Anspruch, zu "forschen" und Dinge "herauszufinden" sowie generell eine wissenschaftliche Perpsektive einzunehmen, dann braucht man Material, Quellen, Belege. Gerade ein Historiker kann da, wo keine Quellen vorhanden sind, auch nicht arbeiten und muß seine Forschung entweder umformulieren, sein lassen oder so lange verschieben, bis er Zugang zu den entsprechenden Dokumenten erhält. Derartige Unterlagen wären, sofern existent, klassifzifiert. Einem seriös arbeitenden Historiker bliebe somit, sofern er nicht auf investigativen Journalismus oder das Leaking-Geschäft umsatteln wollte, nichts anderes übrig, als so lange zu warten, bis die Akten der verdächtigten Behörden auf ordentlichem Wege zur Einsicht freigegeben werden. Eine automatische Deklassifizierung tritt in den USA nach 25 Jahren ein, Dokumente, die hiervon ausgenommen sind, können auch erst nach 30, 40 oder 50 Jahren freigegeben werden. Bestehen besonders begründete Einwände, können Dokumente in Einzelfällen auch länger als 50 Jahre gesperrt werden.

Ganser ist dieser Umstand der langen Wartedauer durchaus bekannt und er geht in seinem Baseler Vortrag zu 10 Jahren 9/11 auch explizit darauf ein. Im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre, die er als Beleg für die Existenz realer Verschschwörungen anführt, sagt er wörtlich (bei Minute 35:23): "It always takes a long time until the historians have the records, but we have them". In Bezug auf Operation Northwoods, d.h. gegen Kuba gerichtete US-amerikanische Pläne für eine False Flag Aktion erläutert Ganser mit folgenden Worten eines der zentralen Dokumente hierzu  (bei Minute 1:15:00):
"It was top secret for many many years, and now it is declassified. It's a Pentagon document. And I am just bringing this here to show you that as historians we are very slow, sorry for that. It usually takes 40 years until we get these documents. That's a bit late, very sorry."

Ganser hat nun aber seine "Forschungen" zu 9/11 gerade nicht mit dem Sammeln aussagekräftiger Quellen begonnen, um dann anschließend anhand der zusammengetragenen Dokumente und in seiner Funktion als Historiker etwaige geheimdienstliche Hintergründe von 9/11 analysieren zu können.  Vielmehr übt er sich in Ermangelung einer tatsächlichen historischen Quellenbasis in recht freien Spekulationen und lockeren Assoziationen, die einerseits auf Gemeinplätze referieren sowie andererseits auf höchst disparate, einzelne "Indizien" und "Auffälligkeiten". Dafür, daß Ganser sich der Divergenz zwischen üblicher wissenschaftlicher Praxis und seinem eigenen, laienhaften Vorgehen jedoch zumindest unterschwellig bewußt ist, spricht, daß er den Topos des geduldigen Historikers geradezu zelebriert. 

Immer wieder betont Ganser, daß er "als Historiker" gewartet habe - tatsächlich aber beziehen sich diese Aussagen nicht auf die Freigabe von Archivquelle, sondern auf das Erscheinen des offiziellen Untersuchungsberichtes der 9/11-Kommission im Jahr 2004. Daß Ganser auch hier mit Platzhaltern für solide wissenschaftliche Arbeit argumentiert und hinsichtlich seiner 9/11-Quellenbasis  wenig mehr bietet als ein Surrogat dessen, was in der historischen Profession üblich ist, geht besonderrs prägnant aus einer Passage in seinem IALANA-Vortrag (ca. Min. 36:50) hervor. Er referiert:
"Die Historiker warten immer, bis das offizielle Dokument herauskommt. Das ist 600 Seiten dick, und da habe ich, das kam erst im Sommer 2004, und da habe ich dann gesucht, wie wird der Einsturz des dritten Gebäudes erklärt [...]."


Im unmittelbaren Anschluß hieran rügt er den Untersuchungsbericht dafür, daß das dritte eingestürzte Gebäude in ihm fehle und nimmt dies zum Anlaß, noch einmal mit aller Vehemenz auf "wissenschaftliche Standards" und deren Einhaltung zu dringen. Auf ähnliche Weise betont er in eben diesem Zusammenhang immer wieder den Umfang des Untersuchungsberichtes sowie daß nur wenige Menschen diesen wirklich gelesen hätten (im Baseler Vortrag etwa bei Minute 28:18). Was Ganser hier betreibt, sind im Grunde Ablenkungsmanöver, dank derer er die Schwächen und Untiefen seiner eigenen Methodik im Vortragsfluß ein wenig verdeckt.


Eine nicht-verschwörungstheoretische Auseinandersetzung mit einer Zentralsteuerunggshypothese bietet  Ganser hingegen nicht. Daß Ganser hier im Grunde als Historiker scheitert, äußert sich u.a. auch darin, daß er immer wieder die Geschichte erzählt, wie er zu den ETH-Baustatikern gelaufen sei, die ihm dann versichert hätten, ihrer Ansicht nach seie WTC7 gesprengt worden. Möglicherweise ist u.a. auch dewegen in seinen Vorträgen immer wieder auf äußerst redundante Weise von "wir Historiker" die Rede. Wie bereits in den vorigen Abschnitten gelärt, liefert Ganser, trotz anderslautender Behauptungen, auch keine Diskursanalyse. Dies ist schade, da er mit einem diskursiven Ansatz die Frage, welche der 9/11-Versionen "wahr" sei, elegant ihrer Bedeutung entheben und sich auf unterschiedliche Sinngebungsprozesse und Phänomene wie das der kollektiven Erinnerung konzentrieren könnte. Seine Wissenschaftlichkeit bliebe jedenfalls bei einem solchen Ansatz gewahrt.


Versuchen wir jedoch weiter, Ganser beim Wort zu nehmen. Ganser möchte erklärtermaßen "Verschwörungstheorien" untersuchen. Nehmen wir also, da eine Fokussierung auf einen nicht-verschwörungsideologischen Umgang mit Zentralsteuerungshypothesen bei ihm nicht erfolgt und damit als akademischer Zugang zum Thema 9/11 ausscheidet, an, Ganser interessiere sich in der Tat für Verschwörungsideologien. Nun gehört zu einer akademischen Arbeitsweise nicht nur eine gewisse grundlegende wissenschaftliche Methodik, die über die Disziplingrenzen hinweg Bestand hat, sondern auch, daß man sich mit den Arbeiten seiner Vorgänger innerhalb des jeweiligen Forschungsfeldes vertraut macht, sich mit ihnen auseinandersetzt und auf ihnen aufbaut.


Karl Popper
Tatsächlich spricht nicht das Geringste dagegen, "Verschwörungsideologien" auf wissenschaftliche Weise zu untersuchen und existiert tatsächlich auch so etwas wie ein Forschungsfeld dazu - zumindest in Ansätzen. Da dieses Forschungsgebiet nicht meines ist, kann ich hier nur einen groben Aufriß bieten - Soziologen und Kulturwissenschaftler, die explizit zu verschwörungsideologischem Denken arbeiten, mögen mir meine Wilderei in ihrem Feld verzeihen. Allerdings demonstriert denn gerade ein solch ein kursorischer Blick "von außen" sehr gut, wie groß die Mängel und Lücken eines Daniele Gansers sind, zumal dieser sich bereits seit vielen Jahren mit dem 11. September und der Truther-Szene auseinandersetzt und damit ein regelrechter Verschwörungsideologie-Experte sein müßte. Doch Daniele Gansser schreibt und redet an wissenschaftlichen Vorarbeiten, die zu Verschwörungstheorien und -ideologien geleistet wurden, komplett vorbei. In all den Texten, Interviews und Vorträgen Gansers, die ich durchgegangen bin, bin ich auch nicht nur auf eine einzige Erwähung von wissenschaftlichen Studien zu Verschwörungsideologien gestoßen.


Eine Auseinandersetzung mit Verschwörungs"theorien" findet durchaus nicht nur in halbakademischen Schmuddelecken statt. Vielmehr haben sich sogar etliche Denker von internationalem Rang mit verschwörungsideologischem Denken auseinandergesetzt und bieten unterschiedliche Analysen und Erklärungsansätze hierzu an. Karl Popper etwa charakterisierte  in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II, Falsche Propheten" (englisches Original erstmals 1945 erschienen) dieses Denken wie folgt (S. 111-112): 
"Um meine Gedanken zu verdeutlichen, werde ich in kurzen Zügen eine Theorie beschreiben, die weit verbreitet ist, aber das genaue Gegenteil dessen annimmt, was ich für das eigentliche Ziel der Sozialwissenschaften halte; ich nenne sie die Verschwörungstheorie der Gesellschaft. […] Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, daß Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und daß sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interesssen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden).
Diese Ansicht von den Zielen der Sozialwissenschaften entspringt natürlich der falschen Theorie, daß, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen ist. Besonders Ereignisse wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden, werden von dieser Theorie als gewollt und geplant erklärt."

Sowie, gerade auch für meine Zwecke hier, d. h. in Hinblick auf die postsowjetische Desinformationspolitik der russischen Regierung, interessant:

"Ich will nicht sagen, daß Verschwörungen sich niemals ereignen. Im Gegenteil. Verschwörungen sind ein typisches soziales Phänomen. Sie werden zum Beispiel immer dann wichtig, wenn Menschen an die Macht kommen, die an die Verschwörungstheorie glauben. Und Menschen, die allen Ernstes zu wissen glauben, wie man den Himmel auf Erden errichtet, werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Verschwörungstheorie übernehmen, und sie werden sich in eine Gegensverschwörung gegen nicht existierende Verschwörer verwickeln lassen. Denn die einzige Erklärung für das Fehlschlagen ihres Versuches, den Himmel auf Erden zu errichten, sind halt die dunklen Pläne des Teufels, der ein uraltes Anrecht an der Hölle hat."

Weitere Philosophen, deren Arbeiten eine Grundlage für eine Beschäftigung mit verschwörungsideologischem Denken liefern könnten, wären etwa Theodor W. Adorno mit seinem Aufsatz "Meinung, Wahn Gesellschaft" (ja, ich gebe zu, ich habe den Hinweis auf Adorno zunächst in einem Jungle World-Artikel zu Verschwörungstheorien gefunden, aus dem Daniele Ganser weiterführende Lektürehinweise und Anregungen aber ebenso bequem wie ich entnehmen könnte), aber auch Jaqcues Lacan und auf ihm aufbauend Slavoj Žižek, die sich beide im Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychologie bewegen. 
Jacques Lacan


Žižek sieht im verschwörungsideologischen Denken eine Suche nach dem entlastenden und sinnstiftenden "Big Other", das er in Anlehnung an Lacan als "constitutive alienation of the subject in the symbolic order" beschreibt (in "Enjoy your Symptom!", S. 246):
"[...] the big Other pulls the strings, the subject doesn't speak, he "is spoken" by the symbolic strucure. In short, this "big Other" is the name for the social substance, for all that on account of which the subject never fully dominates the effect of his acts, that is on account of which the final outcome of his activity is always something else with regard to what he aimed at or anticipated."

Hier im Kontrast zu Žižek dürfte Daniele Gansers eigene Affinität zu verschwörungsideologischem Denken besonders deutlich zum Ausdruck kommen, denn gerade diese "soziale Substanz", die von den Akteuren niemals vollständig kontrolliert werden kann, diese gibt es bei Daniele Ganser nicht (siehe hierzu auch den "Nachsatz" weiter unten). Žižek zufolge ist der Versuch, diesen Moment der in unserere symbolischen Struktur begründeten Entfremdung in Form eines "big Other" zu personifizieren und damit scheinbar eine kohärente Ordnung und den Eindruck von zumindest hypothetischer Kontrollierbarkeit wiederzuerschaffen, ein Ausdruck von paranoidem Denken (S.247):
Salvoj Žižek: Enjoy Your Symptom!
"[...] paranoia is at its most elementary a belief into an "Other of the Other", into another Other who, hidden behind the Other of the explicit social texture, programs what appears to us as the unforeseen effects of social life and thus guarantees its consistency: beneath the chaos of market, the degradation of morals, and so on, there is the purposeful strategy of the Jewish plot."


Die Suche nach der "wahren Wirklichkeit", wie sie auch Truther propagieren, beruht samt deren Suche nach inkohärenten Details und widersprüchlichen Momenten/Anomalien demzufolge auf einem tiefen Mißverständnis (S. 248):
"[...] the real is not the "true reality" behind the virtual simulation, but the void that makes reality imcomplete/inconsistent, and the function of every symbolic matrix is to conceal this inconsistency - one of the ways to effect this concealment is precisely to claim that, behind the incomplete/inconsistent reality we know, there is another reality with no deadlock of impossibility structuring it."

Das Anwachsen von Verschwörungstheorien ist nach Žižek eine Reaktion auf den Bedeutungsverlust des Großen Anderen in (post-)modernen Gesellschaften und auf das Ende der "großen Erzählungen". Žižek betont aber in seinem Aufsatz "The Big Other Doesn't Exist":
"These phenomena cannot be simply dismissed as "regressive," as new modes of "escape from freedom," as unfortunate "remainders of the past" which will disappear if only we continue more resolutely on the deconstructionist path of historicisation of every fixed identity, of unmasking the contingency of every naturalized self-image. Rather, these disturbing phenomena compel us to elaborate the contours of the big Other's retreat: The paradoxical result of this mutation in the "inexistence of the Other" (of the growing collapse of the symbolic efficiency) is precisely the re-emergence of the different facets of a big Other which exists effectively, in the Real, and not merely as symbolic fiction.

The belief in the big Other which exists in the Real is the most succint definition of paranoia, so that, two features which characterize today's ideological stance cynical distance and full reliance on paranoiac fantasy are strictly codependent: today's typical subject, while displaying cynical distrust of any public ideology, indulges without restraint in paranoiac fantasies about conspiracies, threats, and excessive forms of enjoyment of the Other. Distrust of the big Other (the order of symbolic fictions), the subject's refusal to "take it seriously," relies on the belief that there is an "Other of the Other," a secret, invisible, all-powerful agent who effectively "pulls the strings" behind the visible, public Power."


Slavoj Žižek
Zugleich zeigt Žižek auch die Entpolitisierung auf, die mit dem Glauben an die ganz großen Verschwörungen einhergeht und die Art und Weise, wie sich ihre Träger aus einer Situation der (realen oder gefühlten) politischen Schwäche heraus ihrer eigenen Handlungsoptionen berauben: 
 
"What is wrong with the complaint of the truly deprivileged is that, instead of undermining the position of the Other, they still address It: they, translating their demand into legalistic complaint, confirm the Other in its position by their very attack."


Auseinandergesetzt hat man sich mit Verschwörungsideologien besonders auch in der Wissenssoziologie (aufbauend auf Berger/Luckmann) und generell in den Kognitionswissenschaften. Hier werden sie als besondere Form des "cognitive mapping" verstanden, d.h. als Versuch, sich über schematische Reduzierungen in einer Welt zu orientieren, die aus einer Flut an unübersichtlichen und teils widersprüchlichen Informationen und Reizen besteht. Im Schnittfeld von Soziologie und Psychologie angesiedelt ist beispielsweise eine empirische Studie von Viren Swami, die darauf hindeutet, daß Menschen, die Unsicherheit und ein Gefühl der Machtlosigkeit erleben, eher zum Glauben an Verschwörungstheorien tendieren sowie daß Vertreter von Verschwörungstheorien oft zu einer zynischeren Sicht auf Politik und die Welt im allgemeinen neigen als Nicht-Verschörungsideologen, sowie, was für manche überraschend sein mag, daß sie oftmals energische Verfechter demomkratischer Prinzipien sind.

Verschwörungsideologien vermitteln in einer unübersichtlichen und von Machtgefällen geprägten Welt das Gefühl, ein Stück "agency", also Handlungsmacht, zurückerobern zu können oder doch zumindest dank des eigenen Wissens um verborgene Zusammenhänge anderen Menschen überlegen zu sein. Wie die Wissenschaftsjournalistin Maggie Koerth-Baker in The New York Times (die Forschungsergebnisse von Swami zusammenfassend) schreibt: 
"It feels good to be the wise old goat in a flock of sheep." 

Daß es Akademikern durchaus nicht daran gelegen ist, Verschwörungsideologen als "Spinner" abzuwerten und damit aus der öffentlichen Debatte auszuschließen, sondern sie sich um recht nüchterne Analysen ihrer Denkstrukturen und Argumentationsweisen bemühen, zeigt auch eine Studie von Michale J. Wood und Karen Douglas. Das von den Autoren gewählte Fallbeispiel ist - für meine Zwecke hier recht praktisch - gleichzeitig auch eines der  Lieblingsthemen Daniele Gansers: 9/11 bzw. genauer gesagt, Theorien hierüber. 

Beim Vergleich zwischen Anhängern konventioneller Erzählungen und Anhängern von Verschwörungstheorien stellten Douglas und Wood u.a. fest, daß Verschwörungsideologen mißtrauischer sind und ihre Argumentationsweise einen geringeren Faktenbezug aufweist, Konventionalisten dagegen stärker mit einem feindseligen Ton auffallen. Die internationale Querfrontszene, allen voran der iranische Propagandasender PressTV, haben das vermeintlich "positive" Zeugnis, das diese Studie Verschwörungsideologen ausstellt, aufgegriffen um zu behaupten, daß Verschwörungsideologen "geistig gesünder" seien als konventionell argumentierende Menschen. Die Autoren der Studie haben sich allerdings gegen eine derartige Verfälschung ihrer Untersuchtungsergebnisse gewehrt. 

Ein weiteres interessantes Ergebnis der Studie ist, daß Verschwörungstheorien oft einen reaktiven Charakter aufweisen. Douglas und Wood stellen so, z.T. in Rückgriff auf frühere Studien, fest, daß eine verschwörungsideologische Weltsicht weniger mit konkreten "Plots" zu tun hat und diese sogar weitgehend fehlen können, daß mitunter mehr Aufwand betrieben wird, um offizielle Erzähungen zu diskreditieren denn um eigene zu schaffen. D..h. dem Verschwörungsdenken geht es oftmals weniger um Konkretes, es drückt vielmehr eine grundlegend oppositionelle Haltung aus: 
"[...] the specifics of a conspiracy theory are less important than its identity as a conspiracy and its opposition to the official explanation. The important element is that those in power are lying and cannot be trusted, and that they are covering up something sinister."


Hier bieten sich denn auch Ankünpfungspunkte für weitere interdisziplinäre Fragestellungen, insbesondere auch solche, die ins Feld der Politikwissenschaften hineinreichen. Ganser hätte hier auf Studien aufbauen können, die Verschwörungstheorien als besondere Form der politischen Religion behandeln oder er hätte die Korrelationen zwischen Verschwörungsdenken und dem Phänomen eingeschränkter politischer Partizipation (ob nun objektiv gegeben oder subjektiv wahrgenommen) herausarbeiten können. Interessant wäre in diesem Zusammenhang insbesondere auch eine Studie von Ted Goertzel gewesen,  die unter (marginalisierten) Minderheitenangehörigen in den USA eine stärkere Empfänglichkeit für verschwörungsideologisches Denken ausgemacht hatte (siehe hierzu wikipedia). 

Bestandteil politologischer Betrachtungsweisen wäre es auch gewesen, auf den Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Gewaltbereitschaft sowie generell auf die Interessensgeleitetheit und die Funktion von Verschwörungstheorien als Herrschaftsinstrument (siehe auch untenstehenden Nachsatz) hinzuweisen. Hier ignoriert Daniele Gansers "wissenschaftlicher" Ansatz denn nicht nur die vorhandene Forschung, sondern stellt deren Erkenntnisse sogar auf den Kopf: Für Ganser ist die Beschäftigung mit sogenannten "alternative" Theorien nicht mit einer erhöhten Prädisposition zu Gewalt verknüpft, sondern Ausdruck eines dezidierten friedenspolitischen Interesses.

Richard Hofstadter
Geradezu ein "must" wäre es hinsichtlich von Gansers Konzentration auf die US-amerikanische Politik gewesen, auf den amerikanischen Historiker Richard Hofstadter und dessen Klassiker "The Paranoid Style in American Politics" aus dem Jahr 1964 einzugehen. Ganser hätte dieser Essay Gelegenheit zur Kontextualisierung und historischen Eindordnung aktueller Verschwörungstheorien gegeben. Hofstadters Feststellung, daß der paranoide Stil amerikanischer Politiker in manichäischen Weltsichten seinen Ausdruck findet und das Begreifen von politischen Konflikten als Kampf von Gut gegen Böse dazu führt, daß statt Vermittlung und Kompromiß in Form von Sieg und totaler Vernichtung gedacht wird, hätte u.a. sogar Gansers Kritik an Bush und Konsorten ein wenig Substanz verleihen können. Letzendlich bietet die Tatsache, daß Verschwörungsdenken in der amerikanischen Politik eine lange Tradition hat und höchst unterschiedliche Gruppen quer durch die politischen Lager hindurch und bis hin zur Regierungsebene davon erfaßt waren, auch Stoff, um gegen eine Stigmatisierung von Truthern als Gruppe marginaler Spinner anzuargumentieren, wie dies auch das immer wieder formulierte Interesse von Ganser ist. Jedoch ist von einer Bezugnahme auf Hofstadter in Ganser Vorträgen und Artikeln nirgendwo auch nur eine Spur zu sehen.

Festhalten läßt sich, auch anhand eines solch fragmentarischen Überblicks über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit verschwörungsideologischem Denken, daß 9/11-Theorien als wissenschsaftliches Forschungsthema durchaus denkbar sind und die Beschäftigung mit ihnen interessante Einblicke in das Funktionieren unserer Gesellschaften bieten könnte. Ganser hätte auf eine Vielfalt an unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen, Methoden und Theorien zurückgreifen können, um sich auf wissenschaftlich legitime Weise mit dem Truther-Phänomen auseinanderzusetzen.

Ganser jedoch hat nichts "geforscht" zu 9/11, er kolportiert und zwar meist das, was auf schier unzähligen 9/11-Portalen als Wissensbestand der Truther-Szene frei im Internet kursiert. Ganser entwirft keine wissenschaftliche Fragestellung und grenzt dementsprechend auch kein Forschungsthema ein, er flattert von einer Anekdote und einem Kuriosum zum Anderen und erschöpft sich in der Auneinanderreihung von Truismen. In Abwesenheit einer entsprechenden Methodik und theoretischen Fundierung samt einem Verständnis für soziopolitische Prozesse und Dynamiken scheint auch Ganser auf der Suche nach dem großen Movens hinter den Dingen zu sein. Von einer Quellenauswahl, einer Materialsammlung, dem Zusammenstellen einer Datenbasis als Grundlage für eine eingehende Analyse ist ebenfalls nicht die Rede.

 In weiten Teilen bietet Ganser so nicht mehr als eine auf Äußerlichkeiten fixierte, oberflächliche Nachahmung eines wissenschaftlichen Diskurses. Hierfür wählt er oft quantitative Beschreibungen (es müssen viele Bücher gelesen werden, der Historiker wartet lange Jahre auf seine Quellen, sein Buch wurde in zig Sprachen übersetzt) und entsprechende Verben (forschen, untersuchen, herausfinden...), die allerdings keine geeignete Beschreibung für seine Vorgehensweise liefern. Immer wieder auch muß er betonen, daß er "als Historiker" dieses und jenes tue, da er gerade nicht als Historiker und mit Methoden der Geschichtswissenschaft vorgeht - mit denen eines anderen Faches oder interdisziplinären Gebietes leider ebenfalls nicht

Kurzum: Ganser hat - abgesehen von seinen früheren Forschungen zu den Stay Behind-Strukturen der NATO und seiner darauf aufbauenden indirekten, deduktiven und spekulativen Argumentation - keine eigenen Forschungsergebnisse zu 9/11, er hat nichts untersucht und nichts herausgefunden, was sich unterdrücken ließe, er läßt nicht einmal eine seriöse Forschungsintention erkennen. Sein Vorgehen bietet aus wissenschaftlicher Sicht Anlaß genug für deutliche Rügen. Kritik an Gansers Umgang mit dem Thema "9/11" kann damit nicht als Zensur- und Repressionsversuch gegen unliebsame Wahrheiten abgetan werden, zumal sich diese weniger an faktischen Behauptungen stört, sondern an den zugrundeliegenden Denkschemata, der Abwesenheit wissenschaftlicher Analysekategorien und fehlerhafter Logik.

Ferner läßt sich festhalten, daß Daniele Ganser, indem er verschwörungsideologische Gemeinplätze als Produkt moderner wissenschaftlicher Forschung ausgibt und diese damit veredelt bzw. gesellschaftstauglich zu machen sucht, nicht einfach ein Gläubiger unter vielen ist und sich auch nicht in einer derart deprivilegierten Situation befindet, daß er mit verschwörungsideologischen Denkschemata seine eigene Orientierungslosigkeit kompeniseren müßte, sondern daß Ganser in seiner Rolle als Historiker aktiv verschwörungsideologisches Denken propagiert. Vielleicht sollte man ihn angesichts dessen nauch icht als Verschwörungstheoretiker, sondern als  Verschwörungspropagandisten bezeichnen, zumal er in Form unzähliger Vorträge Proselytismus auf professioneller Ebene betreibt und er hiermit wie auch mittels seiner Publikationen nachweislich Anhänger für die Truther-Szene gewinnt. 

So schreibt ein Markus Leuthold aus Gossau auf "911 untersuchen":
"Die Lektüre von Daniele Ganser’s «Europa im Erdölrausch» von 2012 und Peter Dale Scott’s «The Road to 9/11» von 2007 deuten für mich darauf hin, dass 9/11 in einem breiten Kontext von vergangenen und zukünftigen Kriegen und Anschlägen gesehen werden muss. Dies hat mich dazu bewogen, diese Petition zu unterschreiben und eine verstärkte Unterstützung der Friedensforschung durch den Bund sehr zu befürworten."

Und ein Claus Rolff aus Tägerwilen meint:
"Heute habe ich einen Vortrag von Daniele Ganser gesehen. Nun weiss ich: es sind höchstwahrscheinlich die anderen. Um Gewissheit zu haben, brauchen wir genau das, was diese Website fordert: eine neue, unabhängige Untersuchung."



(Nachsatz) "Strategy of Tension" - Antiamerikanische Projektionen und Verschwörungstheorien im Block-konflikt
Lobster: Ihre Fachzeitschrift für VTs!

Bei der Durchsicht des „akademischen“ Umfeldes von Gansers Truther-Aktivitäten ist mir ein Kuriosum in Form eines Artikels von Peter Dale Scott aufgefallen, das unter dem Titel "The Global Drug Meta-Group: Drugs, Managed Violence, and the Russian 9/11" im Oktober 2005 in der "Zeitschrift für Parapolitik" Lobster erschienen war. Mich hat dieser Artikel überrascht, da seine Überschrift suggeriert, hier würde im Rahmen eines internationalen Vergleichs ein mutmaßliches False Flag-Attentat der russischen Regierung mitbehandelt. Hiermit wäre zwar – angesichts der verschwörungsideologischen Argumentationsgewohnheiten des Autors - nicht automatisch eine intellektuell befriedigende Auseinandersetzung zu erwarten gewesen, wohl schien mir dies darauf hinzudeuten, daß der Autor – anders als andere Truther – sich nicht den Vorwurf selektiver Themenauswahl und himmelschreiender politischer Einseitigkeit gefallen lassen müßte. Daraufhin neugierig geworden, mußte ich bei der genaueren Lektüre des Artikels jedoch schnell feststellen, daß eine solch wohlwollende Vorannahme auch hier fehlgeleitet war.

Vorweg noch eine kurze Erklärung: Gemeint sind mit dem “russischen 11. September" die Wohnhausanschläge von 1999, die sowohl als Rechtfertigung für den Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges dienten als auch Vladimir Putin zum Amt des Präsidenten der Russischen Föderation und steigender Popularität in der Bevölkerung verhalfen. Zunächst waren im August/September 1999 in Moskau, Buniaksk (Teilrepublik Daghestan) und Wolgodonsk Sprengsätze hochgegangen, bei denen zum Teil mehrstöckige Wohnhäuser einstürzten und mehr als 300 Menschen, ein Großteil davon Zivilisten, starben. Am 22. September 1999 kam es zu einem bis heute strittigen Zwischenfall in Ryazan: ein Bewohner eines Mehrparteien-Wohnhauses, der wohl im Wissen um die vorangegangenen Anschläge in anderen Städten sensibilisiert war, bemerkte, daß zwei verdächtig wirkende Männer Säcke in den Keller seines Wohnhauses trugen. Die herbeigerufene Polizei fand einen Detonator vor und in den Säcken ein weißes Pulver. Eine erste Messung ergab Hinweise auf den militärischen Sprengstoff RDX (Hexan), der auch bei den vorhergehenden Anschlägen zum Einsatz gekommen war.

Die Spuren führten zum FSB, der sich damit herausredete, man habe in einer Übung die Wachsamkeit der Bürger testen wollen, in den Säcken habe sich lediglich Zucker befunden. Der ehemalige russische Spion Aleksandr Litvinenko, die Journalistin Anna Politkovskaya, der Rechtsanwalt Mikhail Trepashkin und andere hatten daraufhin spekuliert, daß der FSB diese Anschläge selbst inzseniert haben könne, um im Zuge einer False Flag-Aktion die Verantwortung hierfür dann "tschetschenischen Terroristen" zuschreiben zu können. Litvinenko und Politkovskaya wurden ermordet, Trepaschkin wurde für vier Jahre in einer Strafkolonie im Ural inhaftiert; die staatlichen Ermittlungen verliefen im Sande bzw. wurden nachweislich behindert.

Anders als im Falle von 9/11-Trutherszenarien gab es im Falle der Wohnhausanschläge in Rußland durchaus ernstzunehmende, da recht konkrete Hinweise auf eine unmittelbare Beteiligung des FSB und wurden diesbezügliche Vorwürfe und Verdachtsmomente von durchaus seriösen Figuren des öffentlichen Lebens geäußert. Allerdings sollte man auch nicht verschweigen, daß Skeptiker und Kritiker auf den russischen Oligarchen Boris Berezovskii verweisen, der als Kreml-Kritiker Interesse an der Verbreitung einer diesbezüglichen Verschwörungstheorie gehabt haben könnte.

"Assassination of Russia " ("Doku"-Film, mitfinanziert von Berezovskii)  
Da die Wohnhausanschläge "tschetschenischen Terroristen" angelasteten und damit zum Auslöser des zweiten Tschetschenienkrieges wurden, ergeben sich hier narrative Parallelen zur Truther-Behauptung, die USA hätten 9/11 selbst inszeniert, um damit einen Vorwand zur Kriegsführung gegen Afghanistan und den Irak zu haben. Die Titelzeile von Scott spielt damit auf eben diese (scheinbare) Analogie an. Das Interesse von Truthern an dieser Thematik fällt im allgemeinen jedoch extrem gering aus, in Truther-Publikationen und auf den entsprechenden Webseiten und Foren scheint es meist alleine um die USA und ihre westlichen Verbündeten zu gehen.

Peter Dale Scotts Artikel bietet eine in Verschwörungskreisen nicht unübliche Mischung aus anekdotenhaften Details, spekulativen Behauptungen und einer verwirrenden Fülle an „Fakten“, bei denen auffällt, daß eine Gewichtung und Kontextualisierung oft ausbleibt. Zusammengehalten wird dieses heterogene Konglomerat per Suche nach einem alles entscheidenen Meta-Faktor. In Scotts Deutungsmodell ist dieser jedoch wie bei Daniele Ganser das Erdöl und die Sicherung von Rohstoffmärkten, sondern das Streben nach Kontrolle des weltweiten Drogenhandels. Als geheimen Drahtzieher macht Scott eine sogenannte "Meta Group" aus. Eines der in diese Netzwerke involvierten Machtzentren sei eine "Kabale" um den ehemaligen russischen Präsidenten Boris Yeltsin gewesen. Diese habe im Sommer 1999 bei einem Treffen in Frankreich, allerdings nicht ohne einflußreiche westliche Beteiligung, das russische 9/11 geplant: 

"There is an undeniable western face to the dominant meta-group. One member of the meta-group at the 1999 meeting, Anton Surikov, had spent time at the London Centre for Defence Studies; and in addition Surikov had had contacts with at least one senior CIA representative.[...] (Another member of the meta-group, former Lithuanian Defense Minister Audrius Butkevicius, was with Surikov at the London Centre.) We shall see that a third member, Ruslan Saidov, is said to have been paid as a CIA contract agent. One of the alleged purposes of the meeting at the villa – but not the only one – was to give the Yeltsin "family" what it supposedly needed: a Russian 9/11."

Scott greift somit die Ereignisse von 1999 zwar auf, stellt sie aber in den Kontext internationaler Wirtschaftskriminalität und packt so viel Beiwerk dazu, bis die Verbindungen der (angeblichen) Drahtzieher nach Washington zu weisen scheinen. Scott spricht explizit davon, daß die Verschwörungsgruppe ein „westliches Gesicht“ aufgewiesen habe und behauptet, Details, die in Richtung westlicher Beteiligung führten, seien bei früheren Recherchen ignoriert bzw. unterdrückt worden. Nichtwestliche Akteure, so meint Scott, seien generell nicht in der Lage, entsprechend komplizierte Operationen alleine auszuführen. Träten doch einmal nichtwestliche Akteure in Erscheinung, ständen hinter diesen dann letztendlich doch wieder "deeper, hidden forces". Gemeint sind – namentlich ausgeführt – Israel und/oder die USA sowie Saudi-Arabien.

John B. Dunlop (ein namhafter Osteuropa-Experte, der u.a. in Princeton und Stanford tätig war), so kritisiert Scott seine Vorgänger, hätte sich bei seinen Nachfoschungen fälschlicherweise auf den russischen Oligarchen Berezovskii konzentriert und einen weiteren Beteiligten mit Westanbindung namens Adnan Khashoggi vernachlässigt. Auch hätten über Anton Surikov, den Organisator des geheimen Treffens vom Sommer 1999, Verbindungen zu "America's best friend and Putin's most powerful enemy in Russia, the oligarch Mikhail Khodorkovskii" bestanden, sowie über einen Ruslan Saidow auch zu al-Zawahiri und damit zu den Anschlägen von 9/11. Selbst ein französischer Staatsbürger mit jüdischen Wurzeln wird in diese Erzählung Scotts über das Wirken einer Art Geheimgesellschaft (Scotts "Meta Group") mit eingebaut.

Ziel des konspirativen Treffens dieser Gruppe in Frankreich könne neben der Kontrolle des globalen Drogenmarktes auch eine Destabilisierung Rußlands gewesen sein. Scott kommt zu dem Resultat, daß sowohl hinter den Moskauer Anschlägen von 1999 als auch hinter 9/11 die gleichen konspirativen, auf US-amerikanische Interessen ausgerichtete Netzwerke stecken könnten:

"Since first hearing about the meta-group's role in the Russian 9/11, I have pondered the question whether it could have played a similar role in the American 9/11 as well."

Somit zieht Scott zwar Parallelen zwischen 9/11 und den Moskauer Wohnhausanschlägen bzw. fragt nach Zusammenhängen - führt jedoch beide letzlich auf eine vom Westen aus gesteuerte mutmaßliche Supra-Verschwörung zurück. D.h., es geht im hier gerade nicht um die Behandlung von False Flag-Attentaten im West-Ost-Vergleich. In einem weiteren Artikel Scotts, der 2008, d.h. drei Jahre nach seinem Lobster-Artikel zum "russischen 9/11" auf globalresearch als "9/11, Deep State Violence and the Hope of Internet Politics" erschien, erwähnt Scott noch einmal kurz Litvinenkos Behauptung einer FSB-Beteiligung an den Anschlägen von 1999, erläutert dies aber nicht mehr näher. Nach diesem Zeitpunkt scheint Scott die Wohnhausanschläge von 1999 nicht mehr weiter erwähnt zu haben.

Werfen wir jedoch noch einen Blick auf globalresearch und darauf, wie diese Plattform – falls überhaupt – mit dem Thema der Wohnhausanschläge von 1999 umgeht und ob hier Parallelen zu 9/11 gezogen werden. Vor Scott war bereits im Herbst 2004 in einem namentlich nicht gekennzeichneten globalresearch-Artikel behauptet worden, es habe einen unerklärten Krieg zwischen den USA und Rußland gegeben, für den sich die USA islamischer Rebellen bedient habe. Auch in diesem Artikel wird versucht, mittels einer Cui Bono-Argumentation die Moskauer Anschläge von 1999 mit amerikanischen Interessen in Verbindung zu bringen. Es heißt so u.a.:

"Despite Washington’s "war on terrorism" , the indirect beneficiaries of the Chechen wars have been the Anglo-American oil conglomerates. More generally throughout the former Soviet Union, the Islamic jihad has served to destabilize State institutions and disrupt economic activity."

In einem späteren globalresearch-Artikel aus dem Jahr 2011 wird Litvinenkos These zu den Moskauer Anschlägen in einer Fußnote genannt, allerdings ohne diese zu bekräftigen. Im Jahr 2013 schreibt Adevinka Makinde in "Democracy, Terrorism and the Secret State. From the Era of Gladio to the War on Terror" auf globalresearch:

"Western historians have no problems attributing blame to incidents manufactured by totalitarian or authoritarian regimes [..]. And the Western media has had no problems in airing the suspicions about the Russian government’s complicity in the 1999 outrage dubbed ‘The Moscow Apartment Bombings’. Blamed on Chechen separatists, it formed the pretext for unleashing a second bloody war against the Russian federated state of Chechnya. But what of the case for those acts of prefabricated violence and disinformation used by the security agencies of Western democracies not only to subvert foreign governments including the CIA’s famous overthrow of the democratically“False Flag Terrorism” to Sustain America’s “Humanitarian” Agenda elected government of Mohamed Mossadegh in Iran, but also used within their own borders to achieve objectives based on a perceived ‘national interest’?"

Hier geht es also weniger um den Versuch, den Verdacht von der russischen Regierung auf die USA umzulenken, sondern um ein eher klassisches Whataboutism. Im Juli 2014 findet sich dann auf globalresearch noch in Form einer langen Liste, die die weltweite Existenz von False-Flag-Praktiken beweisen soll, ein kurzer Hinweis darauf, daß russische Geheimdienstoffiziere "zugegeben" hätten, die Moskauer Anschläge seien ein Inside-Job gewesen. Der Artikel eines Joachim Hagopian von Juni 2014 erwähnt schließlich die Moskauer Wohnhausanschläge im Rahmen eines Textes unter dem Titel ""False Flag Terrorism" to Sustain America's "Humanitarian" Agenda" bewußt um zu illustrieren, daß die USA nicht die alleinige Macht sei, die False Flag-Operationen inszeniere:

"To demonstrate that America is not alone as the only heavy using of false flags and that other current leaders also employ false flag operations on their own people, the September 1999 bombings of Russian apartment buildings killing 300 innocent people were falsely blamed on Chechen terrorists in order to bring about another war against Chechnya. A 2002 book written by former Russian spy Alexander Litvinenko exposing the 9/99 false flag likely resulted in his poisoning death by Russian intelligence in 2006."

Diesen sechs Artikeln, die in der einen oder anderen Form im Rahmen anderer Arbeiten die russischen Anschläge von 1999 überhaupt erwähnen, stehen auf globalresearch allerdings fast 40 000 Einträge zu 9/11 entgegen. Eine Beschäftigung mit den Moskauer Wohnhausanschlägen scheint in Truther- und Querfrontkreisen, zumindest gemessen an globalresearch, tatsächlich ein absolutes Randphänomen zu sein. Dabei darf man wohl mit einiger Berechtigung sagen, daß sich die Indizienlage beim Vergleich 9/11-Moskau 1999 umgekehrt proportional zum jeweiligen öffentlichen Interesse verhält.

Mit intellektuellem Interesse, Wahrheitssuche, Streben nach Demokratie, einem Eintreten gegen religiös begründete Feindbilder und Sympathien für die Unterdrückten dieser Erde, d.h. mit den Kategorien, mit denen Truther einschließlich Daniele Gansers gerne argumentieren, läßt sich dieses Mißverhältnis somit wohl schlecht erklären, wohl aber mit geopolitischem Machtgefälle und einem oftmals realitätsverzerrenden Blick auf die USA als der "einzigen verbliebenen Supermacht". Letztere Perspektive kommt zwar oft als herrschaftskritisch daher, reproduziert aber in Wahrheit die beanstandeten (tatsächlichen oder gefühlten) Machverhältnisse, indem sie “den USA” oder “dem Westen” eine Art Allmachtsrolle zuweisen.


Mit Ausnahme des Artikels von Joachim Hagopian, der sichtlich bzw. vielleicht sogar demonstrativ um Ausgewogenheit bemüht ist, zeigt diese kurze Analyse, daß gegenüber der großen Masse an Verschwörungstheoretikern, die sich ganz auf 9/11 konzentrieren, einige wenige globalresearch-Autoren zwar nicht grundsätzlich ausschließen, daß die Wohnhausanschläge in Rußland im Zuge einer False Flag-Operation verübt wurden und durchaus erkennen, daß sich hier im Rahmen ihrer eigenen Argumentationen Vergleichspunkte ergeben, sie sich aber unwohl fühlen angesichts der Option, russische und amerikanische Geheimdienstpraktien gleichzusetzen. Bzw. es zeigt sich, daß sie, wie an vorderster Stelle Scott, bestrebt sind, auch bei möglichen False Flag-Attentate auf russischem Boden wieder eine amerikanische Täterschaft zugrunde zu legen. Hiermit deutet sich an, daß die 9/11-Trutherszene nicht nur deutlich antiamerikanisch ausgerichtet ist, sondern oftmals auch implizit oder explizit prorussisch argumentiert wird. Gerade Scotts Lobster-Artikel läßt ein dissimulatives bzw. kompensatorisches Anliegen recht deutlich erkennen. 

In der Tat ist es eines der wesentlichen Merkmale von Verschwörungstheorien, daß sie politisch nicht neutral, sondern interessengeleitet sind. Armin Pfahl-Traughber und Helmut Reinalter schlagen die Verortung im machtpolitischen Diskurs sogar als wesentliches Kriterium für die Unterscheidung von Zentralsteuerungshypothese und Verschwörungsideologie vor. Widmen wir uns hier also noch einmal Ganser und untersuchen wir, wie interessensgeleitet bzw. politisch fokussiert seine Arbeit ist und ob sich hier eine ähnliche Schlagseite offenbart wie bei seinem Kollegen Peter Dale Scott. Hierzu möchte ich unächst ein weiteres Mal auf den Ethnologen Helmut Reinalter verweisen, der in seinem Buch "Die Weltverschwörer" (S.10) einige diesbezügliche Wesensmerkmale von Verschwörungsideologien näher beschreibt:

Als Grundlage dient allen Verschwörungstheorien ein vereinfachtes Welt- und Geschichtsbild, das von der Annahme ausgeht, komplexe Strukturen der sozialen Wirklichkeit könnten durch gezielte Handlungen von Personen oder Gruppen direkt gesteuert werden. Diese Annahme ist wirklichkeitsfremd, weil sozialwissenschaftliche Theorien und Modelle verdeutlichen, dass sich tief greifende Ereignisse in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur nicht ausschließlich durch zielgerichtetes Handeln von Personen oder Personengruppen erklären lassen, zumal das Zusammenwirken vieler subjektiver Gründe und objektiver Bedingungen für gesellschaftliche Veränderungen entscheidend ist, die sich wiederum aus Strukturen, Konjunkturen, Absichten und Zielen, Gegenabsichten, Irrtümern und vielleicht auch aus Zufällen zusammensetzen und sich auch gegenseitig beeinflussen."


Helmut Reinalter über Verschwörungstheorien

Typisch für Verschwörungstheorien ist ein handlungsbestimmtes Geschichtsbild (Formulierung von Dieter Groh), d.h. der Glaube, Geschichte ergebe sich allein aus den Intentionen ihrer Akteure und darauf aufbauendend aus planvollen Handlungen (siehe hierzu wikipedia). Welches Akteursverständnis hat also Daniele Ganser, inwieweit berücksichtigt er Beziehungsgeflechte und soziopolitische Dynamiken, wie plural ist sein Ansatz in Bezug auf unterschiedliche, geschichtliche Prozesse prägende Faktoren, wen benennt er als Verantwortliche(n) und inwiefern ergibt sich hier möglicherweise eine politisch tendentiöse Richtung?

Das Bestreben, eine komplexe Wirklichkeit auf sehr einfache, monokausale Erklärungsschemata zu reduzieren, ist durchaus auch bei Daniele Ganser zu erkennen (z.B. "Die meisten Kriege sind Ressourcenkriege"). Im Einklang mit einer sich nicht unwesentlich auf Stereotypen stützenden Betrachtungsweise versucht auch Ganser immer wieder, moralische Einordnungen bzw. Sortierungen nach einem klaren Gut-Böse-Schema vorzunehmen, etwa wenn er auf die Lügen der Busch-Regierung verweist. Reinalter spricht in Bezug auf dieses Phänomen auch von einem "moralisierenden Dualismus" (S.11).  
Daß bei Ganser Zentralsteurerungshypothesen in Verschwörungsideologie übergehen zeigt sich auch an dessen immer wiederkehrenden Versuchen, selbst bei dünnster Faktenlage diverse Terroranschläge unmittelbar auf das bewußte Planen und Handeln der US-Regierung zurückzuführen. Das Zusammenwirken unterschiedlichster Instanzen und Motivationen sowie die sich hieraus ergebenden Dynamiken werden meist gar nicht erst in Betracht gezogen, bei Interviews etwa nur auf Nachfrage und meist ganz am Rande erwähnt

Bereits Gansers Buch über die sogenannten NATO-Geheimarmeen war dahingehend kritisiert worden, daß dieses verschwörungsideologische Tendenzen aufweise. Der dänische Historiker Peer Henrik Hansen etwa bemängelte:
"The critical and methodical approach used in historical research seems to have played a minor role in Ganser's work with the subject and the few primary sources."

Mehr noch, Ganser, so Hansen, scheitere daran, Belege für die behauptete Verschwörung zwischen USA, CIA, NATO und den verschiedenen Ländern Europas zu liefern. So führe er die Aussagen etlicher hochrangiger Offiziere der Stay Behind Strukturen an, denen zufolge die CIA bei Treffen im NATO Koordinations- und Planungskomitee anwesend gewesen sei, aber keine Enscheidungsfunktion gehabt habe. Auch sei die CIA bei diesen Treffen nur durch CIA-Beamte aus der jeweiligen örtlichen CIA-Kommandozentrale repräsentiert gewesen sei. Aus der Sicht Hansens ergibt sich hieraus eine grob widersprüchliche Argumentationsführung:
 
"Ganser tells us that the leading forces in the conspiracy - the American CIA - had no voting right within on of [...] NATO's Stay Behind organization. Sadly enough Ganser gives no explanation on how that can be, and therefore his conclusion about the big conspiracy falls flat."

Meines Erachtens ist diese Kritik korrekt. So stellt Ganser in seinem Buch zu den sogenannten Nato-Geheimarmeen wie auch in seinem Artikel zu Strategy of Tension in "Intellectuals Speak Out" heraus, daß die Stay Behind Armeen von der CIA und dem britischen Geheimdienst SIFAR gegründet worden seien. Das Zusammenspiel von CIA, NATO, den Regierungen der europäischen Staaten und länderspezifischen Stay Behind-Abteilungen, d.h. der unterschiedlichen, an den Stay Behind-Strukturen beteiligten politischen Kräften und Ebenen, bleibt dagegen weitgehend im Dunkeln. Ganser versäumt, die Gründung der Stay Behind-Truppen an sich, die Urheberschaft der Strategie der Spannung und deren Praxis konzeptionell voneinander zu trennen und setzt implizit Gründung mit Kontrolle gleich. Auch Rezensent Tobias Hof spricht von einer "fehlenden historischen Kontextualisierung" und meint damit, konkret auf das italienische Beispiel bezogen, daß Ganser auf höchst fragwürdige Weise eine "Kontinuität zwischen der Aufstellung von "Gladio" in Italien, den rechtsterroristischen Bombenattentaten zwischen 1969 und 1974 sowie dem Anschlag in Bologna 1980" voraussetzt. 

Ganser entschuldigt das Fehlen von Details zur operativen Praxis mit einer problematischen Quellenlage (Artikel "Strategy of Tension", S.90) :
"It is extremely difficult to research and clarify the details of strategy-of-tension operations, as nobody is willing to publicly confirm that he or she either ordered or participated in secret terrorist operations that killed innocent civilians, spread fear among a target group, and were wrongly blamed on a political enemy. If, as in the case of Italy, a number of different intelligence services are involved, including the Italian SISMI and the American CIA, then the matter becomes even more difficult, as the different services accuse and contradict each other."

Allerdings deutet sich selbst in diesem Ausschnitt bereits an, daß neben der fehlenden Zugänglichkeit von relevanten Archivdokumenten auch Gansers methodischer Ansatz schuld daran hat, daß sowohl die Art und Weise, wie das Zusammenwirken der unterschiedlichen Instanzen bzw. Kooperationspartner institutionell organisiert war, als auch dessen Handhabung in der Praxis unterbelichtet bleiben: Er sieht in konfligierenden Darstellungen der involvierten Parteien ein Forschungshindernis, kommt aber offenbar nicht auf den Gedanken, in diesen Widersprüchen und Schuldzuweisungen auch eine Chance zu sehen, um hierüber mögliche Rivalitäten, Spannungen und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Instanzen der Stay Behind Netzwerke herauszuarbeiten und zu analysieren.

D.h., Ganser ist auch hier wieder auf der Suche nach historischen Eindeutigkeiten und scheint zu erwarten, daß unterschiedliche Akteure und Ebenen sich nahezu reibungs- und konfliktlos zu einer großen Erzählung zusammenfügen lassen. Auch hier gibt er vor, daß es seine Aufgabe als Historiker sei, als Art Richter über die Vergangenheit herausfinden, welche von verschiedenen rivalisierenden Erzählungen die "richtige", historisch "korrekte" sei - an eine eigenständige wissenschaftliche Analyse, die mehr bietet als die Wahl zwischen bereits vorhandenen Deutungsschemata, denkt er anscheinend weniger. 

Die Möglichkeit, daß beispielsweise rechtsextreme Gruppierungen sich der Stay Behind-Netzwerke für ihre eigenen Zwecke bedient und diese intrumentalisiert haben könnten oder daß das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure bzw. Akteursgruppen mit unterschiedlichen Motivationen und Plänen ein Eigenleben entwickelte und zu Dynamiken führte, die außerhalb der Kontrolle der Beteiligten standen, Skripte und Weisungen nicht eingehalten wurden, wirft er nicht einmal auf. Möglicherweise höchst disparate Elemente werden damit so zusammengefügt und geglättet, daß ein einheitliches Narrativ – Gansers Narrativ – entsteht. In diesem schwebt permanent der Vorwurf einer Steuerung von Terroranschlägen auf die europäische Bevölkerung durch die CIA im Raum. 

Anhand einer weiteren Passage aus Gansers Aufsatz zeigt sich, daß Ganser bei seiner Ableitung einer zentralen Rolle für USA bzw. CIA mitunter unsauber und übereilt vorgeht. So spricht er in Bezugname auf den Pellegrini-Bericht davon (S.91), daß die "Strategie der Spannung" von Mitgliedern der amerikanischen und italienischen Geheimdienste implementiert worden sei und erweckt damit den Eindruck, extremistische Gruppen hätten in Italien bei Bombenattentaten lediglich die Rolle von Ausführenden übernommen:
"According to the far-reaching findings of the Italian Senate, the strategy of tension had thus been implemented by members of both the American and the Italian national security communities, including the CIA and the SISMI, which had linked up with extremists who had then planted the bombs."

Eine solche Schlußfolgerung gibt zumindest die von ihm unmittelbar zuvor selbst zitierte Passage des Berichtes aber gar nicht her, dort ist auf sehr viel unbestimmtere Weise davon die Rede, daß entsprechende Operationen von Männern aus dem Inneren staatlicher Institutionen organisiert oder unterstützt worden seien,"and [...] by men linked to the structures of United States Intelligence".

Gansers Forschungsinteresse ist, so zeigt sich hier, klar auf die Frage fokussiert, inwieweit die CIA bzw. die USA verantwortlich gemacht werden können für die europäischen Geheimarmeen des Kalten Krieges sowie - in einer weiteren Verengung und Zuspitzung - für mutmaßlich in deren Auftrag verübte Terrorakte. Ganser geht jedoch nicht nur in seinen Analysen und Interpretationen selektiv und unausgewogen vor, auch in Bezug auf das in Frage kommende Untersuchungsmaterial verengt er ganz unnötig den Blick. In einem Forschungsfeld, in dem seriöse historische Forschung ohnehin schon angesichts einer dünnen und problematischen Quellenlage sehr beeinträchtigt wird, ist dies umso problematischer. Anstatt durch entsprechende Kontextualisierung (z.B. durch Einbezug der Strategien der europäischen Rechten in seine Untersuchungen) für mehr Substanz zu sorgen, folgt Ganser selbst den allerdünnsten und fragwürdigsten Indizienketten - vorausgesetzt, daß diese nach Washington führen. 

In seinem Buch "NATO's Secret Armies" stellt Ganser im Fazit gar die Behauptung auf, die USA hätten in Westeuropa einen geheimen Krieg geführt. Die Stay Behind Truppen, die ursrprünglich für den Fall einer sowjetischen Invasion gedacht gewesen seinen, wären letzendlich auch zu einem Instrument geworden, um den kommunistischen Einfluß auch im Inneren der EU-Länder zurückzudrängen (S. 246):
"It was in this sense that the Pentagon in Washington together with the CIA, M16, and NATO in a secret war set up and operated the stay-behind armies as an instrument to manipulate and control the democracies of Western Europe from within, unknown both to European populations and parliaments."

In dieser von offenkundigen Fehlschlüssen und Verkürzungen gekennzeichneten Darstellungsweise werden das „Pentagon“ und „Washington“ auf höchst pauschale Weise zu Feinden der europäischen Demokratien erklärt. Im Falle von Terrorakten, bei denen die Täter Verbindungen zu Stay Behind Armeen aufweisen oder es zumindest Hinweise auf derartige Verbindungen gibt, betrachtet es Ganser offenbar quasi als erwiesen, daß sich diese als Akte eines "geheimen Krieges" auf Planungen des Pentagon zurückführen lassen. 

Stillschweigend setzt Ganser damit ein strikt hierarchisches Modell von Macht voraus. Er vertritt eine stark dirigistische Auffassung, explifiziert aber nicht einmal, inwieweit sich denn beispielsweise Nato, Pentagon, CIA oder "die US-Regierung" überhaupt gleichsetzen und sinnvollerweise als austauschbare Metaphern behandeln lassen. Politische Handlungsmacht wird im Gegensatz zum kapillarischen Machtmodell Foucaults einer relativ kleinen, eingeschworenen Elite ("CIA", "Pentagon", "Nato"...) zugeschrieben, die ihre Absichten und Entschlüsse in den höchsten Höhen der arcana imperii formuliert und anschließend ein Räderwerk in Bewegung setzt, das diese Intentionen nach unten transportiert und in entsprechende Maßnahmen umsetzt. Diese nicht auf Faktenmaterial gegründete Annahme eines über etliche politische Ebenen hinweg ungebrochenen Ineinandergreifens der Handlungen einer Vielzahl von Akteuren ist nicht nur höchst unrealistisch (nicht einmal Übersetzungsarbeit und Reibungsverluste werden in Betracht gezogen) sondern kann, wie aus den oben zitierten Ausführungen Reinalters hervorgeht, bereits als Verschwörungsdenken gewertet werden.

Des weiteren ist in Gansers Fazit zu seinem Buch über die NATO-Geheimarmeen zu lesen, Operation Gladio werfe ein neues Licht auf die Frage nach der Souveränität Europas (S.246):
"Experts of the Cold War will note that Operation Gladio and NATO's stay-behind armies cast a new light on the question of sovereignty in Western Europe. It is now clear that as the Cold War divided Europe, brutality and terror was employed to control populations on both sides of the Iron Curtain.

Ganser konstruiert hier mit Bezugnahme auf die gewaltsame Niederschlagung des Prager Aufstands ein spiegelbildliches Abhängigkeitsverhältnis westeuropäischer Staaten von den USA, das bisher lediglich nicht als solches erkannt worden sei: Operation Gladio und deren verdeckte Terrororganisationen seien, so behauptet der Schweizer Historiker, das westliche Analogon zur eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten im Zuge der Breschnew-Doktrin:
 
"As far as Western Europe is concerned the conviction of being sovereign and independent was shattered more recently. The data from Operation Gladio and NATO's stay behind-armies indicates a more subtle and hidden strategy to manipulate and limit the sovereignty, with great differences from country to country. Yet a limitation of sovereignty it was. And in each case where the stay-behind network in the absence of a Soviet invasion functioned as a straightjacket for the democracies of Western Europe, Operation Gladio was the Breschnew doctrine of Washington.

Ganser hat diese Argumentationslinie jüngst (14.7.2014) in einem Interview mit den wenig seriösen und des öfteren verschwörungsideologisch argumentierenden Deutsche Wirtschafts Nachrichten (DWN) weiterverfolgt und so ausgebaut, daß sie nun auch problemlos für Reichsbürger und BRD-GmbH-Phantasten anschlußfähig ist. Das Interview ist betitelt mit "Nato-Experte: USA wollen militärische Kontrolle der Ukraine", im Weblink liest man gar: "nato-experte-aus-sicht-der-usa-ist-deutschland-ein-besetztes-land". Die USA wollten verhindern, "dass eine neue Achse Moskau-Berlin entsteht" und spielten "zu diesem Zweck die EU-Staaten gegeneinander aus - um sie weiter kontrollieren zu können", so lautet der einleitende Text der DWN. Tatsächlich behauptet im Verlauf des Interviews dann auch Ganser selbst, Deutschland sei in der Nato "ein Juniorpartner, weil die USA die Nato anführen" und "[a]us Sicht der USA" ein "besetztes Land".

Das Verhältnis USA-Nato-EU wird von Ganser in diesem Interview wie folgt spezifiziert und erlaubt damit möglicherweise auch Rückschlüsse darauf, wie sich Ganser dieses Verhältnis bereits bei der Arbeit an seinem Buch zu Gladio gedacht haben mag (auch wenn er für das DWN-Publikum wohl weiter zuspitzt)
"Ich glaube der Einfluss der Europäer in der Nato ist klein, weil die Nato von den USA angeführt wird. Man sieht das daran, dass die Europäer immer den Generalsekretär stellen dürfen und dieser tritt sehr viel in den Medien in Europa auf. Darum hat man das Gefühl, der Generalsekretär ist die wichtigste Person der Nato. Das stimmt aber nicht! Eine sehr viel einflussreichere Person in der Nato ist der SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) und das ist immer ein amerikanischer General.
und
"Die Nato hat in allen Nato-Mitgliedsländern die Nato-Botschafter. Das sind die Botschafter, die jedes Land schickt, um informiert zu sein, was die Nato als nächstes wünscht. Die Kanäle funktionieren so, dass die Nato – und dabei vorwiegend die USA – sagt: So ist es und jetzt müsst ihr das machen. So zumindest war es bei 9/11 und dem Krieg gegen Afghanistan. Die Europäer gehorchen dann oft einfach nur. [...] Den USA gelingt es sehr gut, die verschiedenen Länder in Europa gegeneinander auszuspielen. Im Moment spielt man Deutschland gegen Russland aus, natürlich im amerikanischen Interesse. Das ist das alte System von „Divide et impera“ – „Teile und herrsche“. Es ist nicht das Ziel von Washington, dass die EU und Russland zusammenarbeiten und einen großen Wirtschaftsraum aufbauen, der auch noch über die größten Öl- und Gasreserven verfügt. Das wäre nicht im Interesse der USA."

Im Anschluß an diese Interviewpassagen spekuliert Ganser, daß es sich bei den Schüssen auf dem Maidan vom Februar 2014 um eine westliche False Flag Operation gehandelt haben könnte - mit dem Ziel, die politische Situation in der Ukraine weiter zu destabilisieren und das Land ins Chaos zu stürzen. Der Bogen zu 9/11 als vermeintlich historisch vorangegangener False Flag-Aktion darf dann auch hier nicht fehlen. 

Zum einen dürfte damit deutlich werden, daß Gansers Beschäftigung mit 9/11 sowie aktuell mit der Ukraine und das verschwörungsideologische Vorgehen dabei aus seiner vorherigen Studie "NATO's Secret Armies" erwachsen, es hier zu keinem Bruch, sondern einem Extrapolieren bereits vorhandener fragwürdiger Ansätze und Thesen kommt. Hierzu paßt bestens, wie der Ethnologe Helmut Reinalter den Schritt von der Zentralsteuerungshypothese zur Verschwörungsideologie beschreibt (S. 10-11):
"Die Ausdehnung der Zentralsteuerungshypothese auf größere Ereigniszusammenhänge führt schließlich zu einem geschlossenen konspirationalistischen Welt- und Geschichtsbild. Solche Erklärungsmuster werden stereotyp auf mehrere, im Extremfall sogar auf alle Phänomene angewandt, mit denen jemand konfrontiert ist. Allgemeines Merkmal solcher Ideologien ist ein auf einzelne Persönlichkeiten oder Gruppen orientiertes, monokausales Erklärungsmuster zur Vereinfachung komplexer Zusammenhänge."

Zum anderen veweist die Art und Weise, wie Ganser seine als zentral benannten Akteure, die CIA, das Pentagon, das Weiße Haus, die US-Regierung, Bush oder Obama als untereinander austauschbare Metaphern behandelt, darauf, daß hier tatsächlich ein verschwörungsideologisches Feindbild zugrunde liegt und dieses an politische Interessen geknüpft ist. Auch bei Ganser scheint, wie bei seinem Kollegen Peter Dale Scott, Antiamerikanismus ein wesentliches Movens zu sein. Ganser greift selbst den kleinsten Hinweis willig auf, sofern dieser sich dafür eignet, einen Verdacht auf die USA als Drahtzieher heimlich inszenierter Terroranschläge zu werfen. Kaum oder gar keine Beachtung finden dagegen Indizien, die in eine andere Richtung und auf eine Urheberschaft anderer Akteure verweisen könnten. Auf verschwörungstheoretischer Ebene heißt das, daß Ganser seine Verdachtsmomente nicht gleichmäßig und politisch unvoreingenommen streut. Insbesondere finden sich bei Ganser keinerlei Bezugnahmen auf den anderen großen Machtblock des Kalten Krieges, die UdSSR.

Um dies in Bezug auf deutsche Verhältnisse noch ein wenig zu illustrieren: Ganser interessiert sich ungemein für das Oktoberfestattentat und neigt auf bislang recht dünner Faktenbasis dazu, dieses als False Flag Operation zu werten. Die Ermordung von Benno Ohnesorg, die die 68-er Revolte mitauslöste und damit einen in seinen politischen Folgen für Westdeutschland weitaus größere gesellschaftliche Wirkmacht als das Oktoberfestattentat hatte, wird von Ganser dagegen nicht behandelt. Das verwundert auch deswegen, weil der Mörder Ohnesorgs - wie auch der Münchener Attentäter - lange Zeit dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet wurde und Ganser im Zuge seiner Studien zu „Strategy of Tension“ ja gerade ein Augenmerk auf von Rechtsextremen begangene Attentate hat.

Nun wurde im Jahr 2009 überraschenderweise bekannt, daß Ohnesorgs Mörder Karl Heinz Kurras ein Stasi-Spitzel gewesen war. Einige Journalisten - nicht aber Ganser – haben hiervon ausgehend die Frage gestellt, inwiefern die Ostblock-Anbindung des Täters auch unser Verständnis der 68er-Bewegung verändern müsse. Peter Horvath etwa stellte in seinem Buch "Die inszenierte Revolte – Hinter den Kulissen von ’68" (Zusammenfassung hier) die These auf, der westdeutsche Studentenaufstand als solcher sei von der DDR inszeniert gewesen. Hätte er recht, dann läge hier eine osteuropäische Geheimdienstpraxis vor, die ein Analogon zur westlichen Strategy of Tension, wie sie Ganser schildert, bilden würde. 
 
Um Mißverständnisse zu vermeiden sei hier jedoch explizit darauf hingewiesen, daß Horvaths Thesen ebenfalls leicht verschwörungstheoretisch angehaucht wirken. Nach Meinung von Ohnesorgs Freund, dem Schriftsteller Uwe Timm, wäre es etwa auch dann zu Protesten gekommen, wenn die SED-Mitgliedschaft des Mörders bereits damals bekannt geworden wäre (FAZ-Interview vom 25.5.2009). Auch konnten bis heute keine Belege für ein Auftragshandeln von Ohnesorgs Mörder Karl-Heinz Kurras gefunden werden, d.h. er war zwar SED-Agent, hat aber höchstwahrscheinlich gerade das getan, was Ganser seinen Akteuren nicht als Möglichkeit einräumt: er hat aus eigenem Antrieb und auf eigene Rechnung gehandelt. 
 
Ein Jürgen Elsässer hat sich im Unterschied zu Ganser für dieses Thema duchaus interessiert, dabei aber die kurios verdrahtete These aufgestellt, "dass der Ohnesorg-Mörder Kurras auch als Stasi-Mann noch von der westlichen Seite gelenkt worden sein könnte", er schreibt:
Wer meine These, dass der Ohnesorg-Mörder Kurras auch als Stasi-Mann noch von der westlichen Seite gelenkt worden sein könnte, vorschnell abtut, möge sich für einen Augenblick die Geschichte von Gladio anschauen – die Geschichte eines Spiels über Bande, zum Teil über doppelte Bande. Diese von den US-Amerikanern geführte NATO-Geheimarmee war in der Zeit des Kalten Krieges in zahlreiche Terrranschläge verstrickt bzw. hat diese angestiftet – und zwar rechte wie linke. Besonders gut dokumentiert ist das im Falle Italien (Entführung Aldo Moro!), aber es gibt auch Hinweise auf Gladio-Einsätze in der Bundesrepublik. Kurras arbeitete in der Westberliner Polizei bis zum 2. Juni 1967 in jener Abteilung, die Verräter in den eigenen Reihen aufspüren sollte – das ging nur mit Geheimdienstkontakten, zum BND und zur CIA. Mit Gladiokontakten?

D.h. Elsässer argumentiert, ähnlich wie Scott in Bezug auf die Moskauer Wohhausanschläge, verschwörungsideologisch, versucht aber, hinter den vermeintlichen östlichen Drahtziehern eine noch tiefere, westliche Ebene zu finden. 

Warum interessiert sich Ganser nicht für den Auslöser der 68er Revolte, obwohl er in anderer Richtung jede noch so kleine Gelegenheit für eine quid pro quo-Argumentation zu ergreifen scheint? Warum ist er den Indizien, die hier auf das Vorliegen einer Strategie der Spannung hingedeutet haben könnten, nicht nachgegangen, und das, obwohl selbst der Spiegel behauptet, die Umstände des Attentats auf Ohnesorg seien von der Berliner Polizei vertuscht worden? Meines Erachtens ist dies ein Ausdruck der politischen Einseitigkeit des ganserschen Interesses an „False Flag“ und „Strategy of Tension“. Bei Elsässer ist zwar das Vorgehen ein anderes, der Effekt aber ähnlich wie bei Ganser: an terroristischen Attentaten, ob von links oder von rechts verübt, scheint allein der Westen schuld, von der CIA gesteuerte Geheimdienstoperationen dienen dazu, echte demokratische Prozesse zu verhindern oder deren Ergebnisse zu verfälschen.

Wollte man Ganser ernst nehmen in seinem Bemühen, die Geschichte der "Strategy of Tension" als Herrschaftspraxis nachzuzeichnen, so müßte man bei ihm insofern ein Versagen auf intellektueller Ebene konstatieren, als er alleine auf das rechte politische Lager sowie auf westliche Kräfte als potentielle Drahtzieher von Attentaten blickt. Eine politische wie gesellschaftliche Kontextualisierung der von ihm beschriebenen Fallbeispiele wird von ihm weitgehend versäumt. So entsteht eine Schilderung, die geheimdienstliche Praktiken des westlichen Machtblocks quasi im luftleeren Raum entstehen läßt. So bemüht er im Fazit seiner Monographie zu den NATO-Geheimarmeen, wie oben zitiert, einen schiefen Systemvergleich, bei dem außer Acht bleibt, wie östliche Geheimdienstpraktiken aussahen und ob es im Rahmen dieser ein Analogon zu westlichen Stay Behind-Operationen gab.

Sinnvoll wäre es jedoch gerade angesichts des spärlich vorhandenen Materials gewesen, eine Transfergeschichte zu erwägen und geheimdienstliche Strategien in Ost und West etwa als Produkt eines konkurrierenden Nachahmens zu untersuchen. Gansers "Strategy of Tension" erscheint jedoch uneingeschränkt als Prärogative des Westens. Die Möglichkeiten eines Austauschs über die Blockgrenzen hinweg, sei es durch gegenseitiges Beobachten, durch puntkuelle Kontakte, Überläufer, Doppelagenten.... werden ignoriert. West und Ost bleiben feinsäuberlich getrennt. Eine derart binäre Perspektive schöpft sich natürlich nicht zuletzt aus den Überresten eines Kalte-Kriegs-Denkens, das es allerdings gerade auch aus wissenschaftlicher Warte zu hinterfragen und nicht unkritisch zu reproduziert gälte. Eventuell deutet sich aber auch hier die für Verschwörungsideologien so charakterische Zweiteilung der Welt in Gut und Böse bereits an. 
 
Mir scheint, und deswegen ist es auch bedingt lohnend, sich auf Scotts „russisches 9/11“ einzulassen sowie davon ausgehend zu fragen, wie es denn Ganser mit Vergleichen über die Systemgrenzen hinweg hält, daß Truther-Erzählungen oftmals unterschwellig einer Quid-Pro-Quo-Argumentation folgen. Nur in Ausnahmefällen aber tritt diese tatsächlich in Form einer expliziten Gegenüberstellung an die Oberfläche, bei Scott, bei Makinde, bei Ganser in seiner Bezugnahme auf die Breschnew-Doktrin oder auch bei Elsässer, wenn er versucht, Kurras quasi als doppelten Doppelagenten hinzustellen und damit seine Täterschaft doch wieder westlichen Kräften zuzuschieben. Ansonsten deutet lediglich ein regressiver Antiamerikanismus in den Truther-Argumentationen darauf hin, daß diese auch da, wo der Gegenpart nicht erwähnt wird, oftmals auf einen impliziten Systemvergleich hinauslaufen und dieser apologetische, kompensatorische und projektive Aspekte aufweist. Die USA sind böse(r), die USA tun das auch, es waren die USA. 
 
Daß 9/11-Verschwörungstheorien, gerade auch in der Version Gansers, eine antiamerikansiche Schlagseite aufweisen, dürfte nunmehr wenig strittig sein. Die Frage, die es hier zu stellen gilt ist aber, ob sich hieraus ein prorussischer Effekt quasi automatisch und unbeabsichtigt ergibt oder ob diese Verschwörungsideologien auch tatsächlich Interessen der russischen Regierung bedienen, ihre Verbreitung vielliecht gar von prorussischen Querfrontkreisen gezielt gefördert wird. Zunächst mag Letzteres einigermaßen abstrus und unglaubwürdig klingen, ich werde jedoch noch näher darlegen, warum ich zwar nicht der Auffassung bin, daß dies zwar nicht notwendigerweise der Fall sein muß, es aber legitime Gründe gibt, einen solchen usammenhang zu vermuten. Hierzu muß ich allerdings noch einmal ein wenig theoretisch und historisch ausholen. 
 
Gesagt wurde bereits, daß Verschwörungsideologien nicht neutral, sondern interessengeleitet sind. Werfen wir, um diesen politischen Aspekt von Verschwörungsideologien und die mit ihnen gegebenen Manipulationsmöglichkeiten besser zu verstehen, erneut einen Blick auf das, was Reinalter schreibt (S. 13):
"Bei der Wirkung des Verschwörungsmythos spielen neben psychologischen Faktoren (z.B. Angst und Wahnvorstellungen) auch Projektionen eine bedeutende Rolle; vieles, was die Exponenten der Verschwörungstheorie den dämonisierten Minderheiten unterstellten, etwa den Juden und Freimaurern, betrieben sie selbst oder strebten danach. [...] Schließlich sind auch noch politische Faktoren zu berücksichtigen, weil die Verschwörungstheorie bei der Werbung für bestimmte politische Ämter immer wieder gezielt verwendet bzw. der Verschwörungsmythos politisch eingesetzt wurde. Diese Instrumentalisierung verweist auf die Manipulationsfunktion einer solchen Ideologie, die stetst in einer bestimmten historischen Situation zum Einsatz kam."

D.h., Verschwörungsideologien, die eine geheime, manipulative Steuerung unserer Umwelt behaupten, dienen selbst mitunter der politischen Manipulation, indem sie Panik verbreiten und einen übermächtigen, quasi unangreifbaren Gegner suggerieren bzw. generell eine Situation der Überforderung herstellen, und sei es durch das Überladen mit negativen Informationen und Katastrophenbotschaften. Verschwörungsideologien sind damit nicht mit einem Irrglauben, der "einfach da" ist bzw. auf spontaner und rein individueller Basis entsteht, gleichzusetzen. So heißt es in einem an Reinalter angelehnten Artikel im Schweizer Tagblatt

"Dient eine Verschwörungstheorie einem offenkundig politischen Zweck und wird aus ihr ein Machtanspruch oder gar die Forderung nach gewaltsamem Handeln abgeleitet, dann liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine Verschwörungsideologie handelt. [...] Ihre Aufgabe ist dann offenkundig nicht, Transparenz zu schaffen, sondern Mehrheiten zu organisieren oder – mithilfe des Faktors Angst – zu erpressen."

Dabei können Glaube an eine Verschwörungsideologie und deren rational kalkulierte Instrumentalisierung parallel zueinander existieren: 

"Unter den Vertretern der Verschwörungsideologien gibt es somit solche, die tatsächlich an die Theorien glauben, und solche, die sie gezielt als Instrument einsetzen."

Auch das Lexikon der Soziologie (hier im indirekten Wiki-Zitat) wies bereits 1972 auf die politische Funktion von Verschwörungstheorien hin, deren Aufgabe sei es, im Sinne einer Sündenbocksuche von eigenen Mißerfolgen abzulenken und damit die eigene Herrschaft zu stabilisieren.

Tatsächlich war das Verbreiten von Verschwörungstheorien im Zuge weiter angelegter Desinformationskampagnen als Teil psychologischer Kriegsführung gute alte sowjetische Tradition und ist entsprechend historisch belegt. Das Zusammenbasteln von Verschwörungstheorien und ihre Verbreitung fiele in den Bereich der sogenannten "aktiven Maßnahmen", mittels derer der Geheimdienste des Ostblocks suchten, direkt in weltpolitische Entwicklungen einzugreifen. Max Holland beschreibt im Journal of Intelligence and CounterIntelligence (S.2-3) die eindrucksvolle Spannweite sowjetischer “aktiver Maßnahmen” wie folgt:

An impressive, even dazzling, array of overt and covert psychological activities fell under the rubric of active measures.5 They encompassed ostensibly independent international peace congresses, youth festivals, women’s movements, disarmament protests, trade union congresses, the deployment of agents of influence, and, of course, all manner of informational activities carried out on a worldwide scale, ranging from clandestine radio broadcasts to the manipulation of seemingly independent media assets. Regardless of the guise, the purpose of such measures was unitary: to weaken the military, economic, and psychological climate in the West, and by doing so, to strengthen the Soviet Union in what was perceived as a zero-sum game on a global scale.6

Desinformation meinte in diesem Sinne die Erstellung von “all sorts of faked, forged, and implanted materials targeted at politicians, professionals, workers, the academic community, and the public at large” (Holland, S. 3), das u.a., gerne mit Konzentration auf die USA als “Hauptgegner”, dazu dienen sollte, einen Keil in westliche Bündnisse zu treiben. Die amerikanische Regierung hatte sich durch diese Art der Manipulation sogar genötigt gesehen, eine eigene Abteilung zur Gegenaufklärung, die "Active Measures Working Group", ins Leben zu rufen. 
 
Verschwörungstheorien, die als Teil der KGB-Desinformationskampagnen gepusht wurden, waren u.a. solche, die sich um den Mord von John F. Kennedy rankten, die Behauptung, der Aids-Erreger HIV gehe auf Biowaffen-Experimente eines amerikanischen Labors zurück ("Operation Infektion"), Spekulationen über eine gefälschte Mondlandung oder die panikerzeugende Meldung, daß fluorisiertes Trinkwasser ein Komplott der amerikanischen Regierung zur Bevölkerungskontrolle sei (siehe auch hier). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere noch, daß, wie das Beispiel der "Operation Infektion" zeigt, bei der Verbreitung von Verschwörungsideologien Strategien benutzt wurden, die es erschweren sollten, auf deren Ursprung zu schließen:

"Dissemination was usually along a recognized pattern: propaganda and disinformation would first appear in a country outside of the USSR and only then be picked up by a Soviet news agency, which attributed it to others’ investigative journalism. That the story came from a foreign source (not widely known to be Soviet controlled or influenced) added credibility to the allegations, especially in impoverished and less educated countries which generally could not afford access to Western news satellite feeds. To aid in media placement, Soviet propaganda was provided free of charge, and many stories came with cash benefits."

Max Holland, der anhand von Beispielen wie der Verschwörungstheorie um den Kennedy-Mord sowjetische Desinformationskampagnen im Detail beschreibt, betont, wie viel Sorgfalt auf den Aufbau eines entsprechenden Netzwerkes zur Dissemination von Desinformatisya verwandt wurde (S.4): 
 
Months, if not years, of effort could go into laying the groundwork with Western and Third World journalists and editors at publications not perceived as Soviet organs. Significant international events with a potentialpayoff had to be analyzed to determine whether they could be exploited for disinformational purposes, and what the risks were. Above all, to be successful a disinformation scheme required fidelity to known or easily verifiable facts, while exploiting latent beliefs, no matter how inchoate. 19Disinformation had to be plausible, and only part of the information was concocted.

An der Mutter aller Verschwörungstheorien, den "Protokolle der Weisen von Zion", war noch die zarische Geheimpolizei Okhrana beteiligt gewesen, diese waren von der Okhrana dieser benutzt worden, um die Position russischer Liberaler zu diskreditieren (siehe auch hier und hier). Der spätere sowjetische KGB hat an Techniken der Okhrana angeknüpft und diese weiter ausgebaut (siehe hierfür etwa das einleitende Kapitel "'Active Measures': A Russian Tradition" in Andrew Wilsons "Virtual Politics: Faking Democracy in the Post-Soviet World"). Sogar die "Protokolle der Weisen von Zion fanden weiterhin Verwendung, etwa als anläßlich des Sechstagekriegs innerhalb der Sowjetunion mit dem Ziel der Stimmungsmache gegen Israel; auch soll der KGB in den 1970ern Übersetzungen der "Protokolle" gezielt im arabischen Raum gestreut haben, um dort Antiamerikanismus, Antisemitismus und eine feindselige Haltung gegenüber Israel zu fördern. Heute tauchen die "Protokolle der Weisen von Zion" wieder im Umfeld der prorussischen Jebsen-Elsässer-Mährholz-Montagsmahnwachen auf (so etwa in Oldenburg und Koblenz).

Auch eine Neuflage der Fluorid-Hysterie läßt sich in neoeurasischen Querfrontkreisen finden, so etwa in Form einer Reihe alarmistischer Artikel auf globalresearch, die Titel tragen wie "Fluoride - Killing us Softly", "Fluoride in your Drinking Water May Be Damaging your Brain: Expert Testimony" oder "Poison is Treatment: The Campaign to Fluoridate America". Überhaupt ist, wer Verschwörungstheorien attraktiv findet, bei der prorussischen Propagandaplattform globalresearch bestens beraten. Ein weiteres Medium, das auf massive Weise Verschwörungstheorien befördert, ist der russische Auslandssender Russia Today. Rationalwiki bezeichnet ihn gar als "the only international news organisation that promotes conspiracy theories on an industrial scale". Zur Debatte steht damit nicht, ob Verschwörungstheorien als Teil politischer Desinformationskampagnen gezielt gestreut und gefördert werden, denn das ist historisch gesehen unstrittig, sondern inwieweit diese Praktiken heute wieder aufgegriffen werden. Hierzu sind entsprechende Nachforschungen notwendig, zu denen mein Artikel hier nur einen ersten Anstoß und einige provisorische Überlegungen bieten will.


Allerdings schien das Interesse an der Geschichte der sowjetischen Desinformationskampagnen in den letzten Jahren weitgehend versiegt und hat man weitestgehend wohl auch versäumt, nach postsowjetischen Kontinuitäten zu fragen. Der wissenschaftliche Aufsatz von Max Holland stellt fest (S.1), daß mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwar eine Flut von Informationen über die Geheimdienstpraktiken des Ostblocks zugänglich wurde, der Aspekt der psychologischen Kriegsführung aber nur wenig Beachtung gefunden hat. Holland selbst spricht in Bezug auf die Jetzt-Zeit von einem „Überhang“ früherer sowjetischer „aktiver Maßnahmen (S.19):
[...]the overhang from Soviet active measures has long outlasted the Cold War. A good example is the publication in France of a purportedly nonfiction book by Thierry Meyssan that claims the 11 September 2001 attack on the Pentagon was conceived not by al-Qaeda, but by extreme right-wingers inside the U.S. government.”
 
Hierbei betont Holland, daß es im Falle Meyssans und anderer neuerer Verschwörungstheorien keine “unsichtbare sowjetische Hand” gegeben habe, d.h. er nimmt offenbar an, daß verschwörungsideologisches Denken, daß zu Zeiten des Kalten Krieges von sowjetischer Seite gefördert wurde, nach Zusammenbruch der UdSSR noch als Art Selbstläufer weiterwirkte. Hier muß man berücksichtigen, daß Hollands Aufsatz ursprünglich bereits im Jahr 2006 erschienen ist und Putin erstmals im Jahr 2012 auf sein Interesse an “soft power”-Strategien hingewiesen hat (siehe hier, S. 12). Eine heutige Evaluation käme - gerade auch angesichts der internationalen Querfrontnetzwerke, in die Meyssan eingebunden ist und auf die ich noch gesondert zu sprechen kommen werde - mitunter zu anderen Ergebnissen und in der Tat zeichnet die jüngst herausgekommene Studie Pomerantsev/Weiss, auf die ich gleich näher eingehen werde, ein anderes Bild und legt erhebliche sowjetisch-postsowjetischen Kontinuitäten nahe. 

Im gleichen Zusammenhang, und das sei hier noch nachgetragen, stellt Holland jedoch auch fest, daß der KGB die im Zuge von Desinformationskampagnen verbreiteten Geschichten nicht völlig frei erfand (S.20): 
 
[...] Soviet dezinformatsiya was most effective because it preyed upon already latent fears and prejudices about the United States found in Europe and the Third World.109 Successful dezinformatsiya could not be woven out of whole cloth. It worked by exploiting views already held to some degree, perspectives that were bubbling beneath the surface.

Sowjetische Desinformationsstrategen bauten somit auf bereits vorhandenen “Material” auf und setzten auf eine Art symbiotisches Verhältnis zwischen lokalem, “von selbst” entstandenem Verschwörungsdenken bzw. kulturell gegebenen Prädispositionen einerseits und sowjetisch gesteuerter Verschwörungsideologie andererseits.Ein Überläufer hatte dieses Vorgehen im Jahr 1971 als “parasitisch” beschrieben (Holland, S. 24). In der Praxis wird es somit da, wo verschwörungsideologisches Denken vorliegt, oft schwierig sein zu bestimmen, ob dieses aus einer quasi “autonomen” Quelle oder aus einer gezielt vorangetriebenen Propagandastrategie herrührt und wo das eine in das andere übergeht.

In der im November 2014 von „Institute of Modern Russia“ und „The Interpreter“ herausgegebenen Studie namens „The Menace of Unreality: How the Kremlin Weaponizes Information, Culture and Money“ stellen die beiden Autoren Peter Pomerantsev und Michael Weiss fest, daß die russische Regierung auch heute (wieder) gezielt nach Schwachstellen des Westens suche, um diese u.a. im Zuge der eigenen Propagandaaktivitäten für sich nutzbar zu machen (S. 6):
The Kremlin exploits systemic weak spots in the Western system, providing a sort of X-ray of the underbelly of liberal democracy.


Explifiziert wird dies etwa anhand des russischen Auslandssenders RT, der insbesondere auch auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien setzt (S. 15-16): 
 
[...] RT manages to attract an audience by focusing on existing anti-US and anti-Western themes and then splices in interviews with Putin or Russian Foreign Minister Lavrov when necessary. One of RT’s specializations is screening conspiracy theories—from the views of 9/11 “truthers” to beliefs about the “hidden hand” behind the Syrian conflict. [...] Perhaps RT’s focus on promoting conspiracy theories should not be taken too lightly: within Russia we have seen how television promotes forms of thinking that make critical, reality-based discourse impossible, while helping cultivate an information space into which the Kremlin can then push out its own dezinformatsiyato confuse situations at critical junctures. [...] While viewers are initially attracted to RT by a popular anti-Western message and conspiracy theories, they are then fed other forms of material that stray beyond even the wildest “opinion TV” and smack more of 21st-century active measures.

Die Studie sieht Desinformations- und Propagandastrategien der Regierung Putin damit duchaus in die Tradition sowjetischer Geheimdienststrategien verankert, so werden aktuelle Ebola-Verschwörungstheorien als modernes Echo der alten Aids-Desinformationskampagnen bezeichnet (S. 16). Hinzugekommen seien zum alten Sowjethandwerk jedoch neueste Erkenntnisse aus PR und Medienmanipulation (S.10). Der wesentliche Unterschied zwischen sowjetischer Propaganda und Putins Desinformationspolitik bestehe in einem veränderten Verhältnis zu “Wahrheit”. Gab man sich zu Sowjetzeiten Mühe, falsche Informationen wenigstens “wahr” aussehen zu lassen, so orientieren sich die heutigen russischen Propagandastrategien am “Effekt” und arbeiten damit auf die Auflösung des Wahrheitsbegriffs an sich hin (S. 11): 
 
"The aim of this new propaganda is not to convince or persuade, but to keep the viewer hooked and distracted, passive and paranoid, rather than agitated to action. Conspiracy theories are the perfect tool for this aim. They are all over Russian TV. For over a decade political commentary programs such as Odnako on state-controlled Channel 1 have talked about current affairs in a way that avoids clear analysis but nudges the viewer towards a paranoid worldview with endless hints about “them” and “outside enemies” who want to “bite off a piece of Russia.”"

Besonders erwähnenswert in diesem Zusammenhang: auch Daniele Ganser hat Kontakte zum weiteren Umfeld des Programms “Odnako”, zu dem auch die oben bereits erwähnte Natalya Krasheninnikova, die Herausgeberin der russischen Übersetzung von Gansers “NATO-Geheimarmeen” gehört (ein späterer posts wird das vertiefen). Ein weiterer Unterschied zum früheren sowjetischen Informationskrieg besteht laut Pomerantsev und Weiss (S. 19) darin, daß sich heutige Propagandaaktivitäten des Kreml gleichermaßen an linke und rechte Gruppen richten. 
 
Um nun auf Daniele Ganser und sein Umfeld zurückzukommen: Die Truther-Szenarien vom hausgemachten 9/11 bieten sich für russische Interessen an, da sie die Perfidität der amerikanischen Regierung zu illustrieren scheinen und die Bereitschaft der USA betonen, sich in machtpolitischem Interesse selbst gegen die eigene Bevölkerung zu wenden. Zudem läßt sich, wie wir oben gesehen haben, diese Behauptung leicht zu einem Szenario ausweiten, demzufolge die USA die Staaten Westeuropas durch vorgetäuschte Terroranschläge in Angst und Schrecken hielten, um deren eigenständige Entwicklung und damit auch wahrhaft demokratische Strukturen zu verhindern. Letzendlich bieten sich hier Anknüpfungspunkte für den rechten Reichsbürgerdiskurs, denen zufolge Deutschland ein nach wie vor von den USA besetztes Land ist, als auch für das Anliegen der neoeurasischen Bewegung, einen Keil zwischen die USA und Westeuropa zu treiben und insbesondere den Deutschen zu suggerieren, daß ein Bündnis mit Rußland für sie vorteilhafter sei. 
 
Um meine Position hier zur Sicherheit noch einmal so deutlich wie möglich zu machen: ich vertrete hier nicht die Auffassung, daß Daniele Ganser und sein Umfeld Verschwörungstheorien verbreiten, die in russischen Propagandaküchen entworfen wurden. Ich gehe davon aus, daß Ganser und „Wissenschaftler“ wie Peter Dale Scott von prorussischen Querfrontkreisen als nützlich für deren Anliegen erkannt wurden und man demzufolge ihre Arbeiten aufgreift, d.h. daß prorussische Querfrontkreise sich nach alter Tradition vorhandenen Potentials bedienen, dessen Verbreitung fördern und je nach Möglichkeit instrumentalisieren bzw. manipulieren. Wie weit diese Symbiose geht, inwieweit sich die Protagnoisten ihrer bewußt sind und ob man sie sich eher als Kooperation im Sinne einer win-win-Situation, als Instrumentalisierung oder als bewußte propagandistische Tätigkeit denken sollte, vermag ich jedoch nicht zu sagen.

Meine Auffassung, daß es berechtigt ist, von einer gewissen Symbiose bzw. Konvergenz zwischen Gansers Inhalten, Argumentationsmechanismen und den in deren Verbreitung involvierten Netzwerken mit denjenigen der russischen Propagandamaschinerie zu sprechen und demzufolge die Frage nach politischer Instrumentalisierung durch eine internationale Putin-Querfront zu sprechen, stützt sich auf folgende Beobachtungen: 
  • Die Themenaffinität
  • Der Brückenschlag zwischen rechtem und linkem Lager
  • Verschwörungsideologische, im Effekt entpolitisierende/ deautorisierende Argumentationsweise
  • Inhaltliche Positionen zu Rußland und zum Ukraine-Konflikt
  • Personelle Netzwerke und mediale Verbreitung
Um diese Punkte bzw. diejenigen von ihnen, die hier bisher noch nicht thematisiert wurden, noch kurz zu erläutern: Obenan auf der Liste der beliebtesten Themen der sowjetischen Desinformationsindustrie war laut Holland (S.8) – nach Ländern aufgeschlüsselt – folgendes gestanden:
  • USA: Geheim- und Sicherheitsdienste (CIA und FBI); Pentagon und Militarismus, der militärisch-industrielle Komplex; Imperialismus und kapitalistische Ausbeutung im Weltmaßstab
  • NATO: Pläne für aggressive Kriegsführung; kapitalistische Herrschaftsausübung via ökonomischer Integration
  • Westdeutschland: Revanchismus; Neonazismus; BND
  • Vermischtes: politische Morde, Staatsstreiche; unkonventionelle Kriegsführung (nuklear, chemisch, biologisch); Katastrophen, die sich auf plausible Weise menschlichen Handlungen zuschreiben lassen

Diese Liste liest sich größtenteils wie eine Beschreibung der Themenschwerpunkte von Daniele Ganser oder auch Jürgen Elsässers “Compact”, in dessen Umfeld sich Daniele Ganser ebenfalls bewegt; was fehlt bzw. nicht explizit benannt ist (indirekt dann aber doch über “Katastrophen” als Überbegriff) ist das Abheben auf umweltpolitische Themen wie Fracking und Klimawandel. Ein Brückenschlag zwischen rechtem und linkem Lager ist bei Daniele Ganser sowohl inhaltlich (u.a. ressentimentbasierte, insbesondere antiamerikanische Argumentationsweise und verkürzte Kapitalismuskritik, platteste Iimperialismuskritik, die Rede von Deutschland als besetztem Land etc.) als auch medial zu beobachten: Ganser bedient sich einer breiten Palette von Medien, von linksgerichteten Querfrontorganen wie Freitag, Jungen Welt und Neue Rheinischen Zeitung über die Deutschen Wirtschaftsnachrichten, anthroposophische und rechtsesoterische Medien wie “Zeitpunkt” und “Der Europäer” bis hin zur Elsässers “Compact”, Ken FM und Junge Freiheit.

Zu personellen wie medialen Netzwerken, die der prorussischen Querfront oder gar dem Kreml selbst nahestehen, rechne ich insbesondere Daniele Gansers Verbindung zu Peter Dale Scott und dessen amerikanischem Umfeld inklusive Raymond McGovern und den VIPS (Veteran Intelligence Professionals for Sanity), den Anteil von globalresearch und Michel Chossudovsky am Sammelband “Intellectuals Speak Out” sowie generell die Rolle, die globalresearch bei der Verbeitung von Gansers Studien und Inhalten spielt sowie, unmittelbarer erkennbar, RT und INVISSIN.

 Ich werde in meinen späteren posts noch ausführlicher auf diese putinlastigen Querfrontnetzwerke sowie auf seine Kontakte zur deutschen Qurfront eingehen, hier an dieser Stelle sei lediglich noch darauf verweisen, daß Ganser in Form der oben erwähnten IALANA (Geschäftsführer Reiner Braun) auch Kontakte zur alten SED-beeinflußten bundesdeutschen Friedensbewegung pflegt, sowie daß er – eher ein kleiner Mosaikstein im Gesamtbild – jüngst mit Rainer Rupp zusammen eine Veranstaltung zum Thema “Neuer (K)alter Krieg?” bestritten hat: Rainer Rupp ist ehemaliger Stasi-/KGB-Agent und vertritt auch heute wieder extrem kremlfreundliche, propagandistisch verzerrte Positionen in Bezug auf den Konflikt in der Ukraine und den Zustand westlicher Demokratien (Bsp.: Artikel in der Jungen Welt vom 15.5.2014 unter dem Titel “Ziel Moskau”, Volltext hier, vom 14.8.2014 zu “Genozidplanspiele. Faschismus in Ukraine oder Israel ignoriert”, Volltext hier, oder auch, noch frischer, sein Auftritt in der ersten Episode der RT-Sendung “Der fehlende Part” vom 12.November 2014).

Ein letztes Beispiel dafür, daß Truther-Szenarien oftmals Spiegelungen, Projektionen und/oder auch (bewußte oder unbewußte) Systemvergleiche enthalten und dabei im Sinne von Putin-Rußland argumentiert wird, illustriert ein kürzlich von KenFm ins Netz gestelltes und von Evelyn Hecht-Galinski beworbenes Video. Es trägt den für sich genommen bereits recht aussagkräftigen Titel “Gegenüberstellung: Marieluise Beck im Bundestag und Dr. Daniele Ganser bei KenFM” trägt. 


Zusammengeschnitten ist es aus:

a) einer Rede von Marieluise Beck, in der diese, direkt an die Fraktion von Die Linke gerichtet, argumentiert, Putins Rußland sei nicht mehr das “sozialistische Bruderland”, hier habe sich vielmehr ein “sehr zynisches Kartell der Macht aus ehemaligen Geheimdienstleuten und aus dem großen Geld” etabliert und zudem auf die seltsame Allianz der Putin-Propagandisten in Deutschland - inklusive rechter Parteien, Elsässers “Compact” und Montagsmahnwachen - verweist
b) Passagen aus dem zweiten Interview, das Ganser bei KenFM gab und in dem dieser darüber spricht, wie Rußland vom Westen “bedrängt” werde 

Ganser erzählt hier u.a. Folgendes (ab ca. Minute 5:00):
[...]dieser Kampf zwischen den USA, zwischen Rußland und zwischen China, dieser Kampf ist nicht vorbei. Das heißt, das sind die Großmächte, die immer um Einfluß ringen, und die Amerikaner haben eben sozusagen die Idee, daß sie auf dem euro-asischen Feld, das ist Europa und Asien zusammen, daß sie dort die verschiedenen Akteure gegeneinander aufspalten, daß also die Deutschen und die Russen sich nicht mögen und daß die Iraner und die Iraker im Krieg sind und daß in der Ukraine die verschiedenen Gruppen gespalten sind ... weil, wenn sich die zusammentun würden, dann hätten sie sehr viel Wirtschaftsmacht und sehr viel Ressourcen. [...]

Bereits dieser Auszug zeigt, daß hier auf mehreren Ebenen mit Spiegelungen gearbeitet wird, sowohl in Bezug auf den auf einen Systemkonflikt abhebenden Inhalt, als auch in der nachträglichen Gegenüberstellung mit der Rede Becks sowie, besonders frappant, daß aktuelle russischen Vorgehensweisen in der Ostukraine hier auf die westliche Politik projiziert wird: Rußland führt einen nonlinearen bzw. Hybriden, von längerer Hand geplanten und nichterklärten Krieg in der Ostukraine, Ganser hingegen suggeriert, Gladio-Inszenierungen, Regime Change Operationen der CIA und westliche Wirtschaftskriege seien die Wurzeln des Konfliktes:

Wenn man das so beobachtet, dann ist es meiner Meinung nach eigentlich falsch, wenn man diesen Sturz von Janukowitsch, 2014 in der Ukraine, und der Machtantritt von Poroschenko, auch 2014 in der Ukraine, wenn man den nur so darstellt, als wäre das eine Revolte des Volkes, die sozusagen zum Sturz eines korrupten Führers geführt hat. Das ist so nicht richtig, sondern wir haben auch Paramilitärs, die eingreifen. Wir haben auf dem Maidan, das ist dieser Platz in Kiev, haben wir Scharfschützen an nem ganz entscheidenden Tag im Februar 2014, die von den Dächern runterschießen und die erschießen sowohl Polizisten als auch Demonstranten. Und das ist einfach für den Historiker immer so ein Aha-Erlebnis, wo man sich fragt: Nochmals! Polizisten und Demonstranten haben die erschossen, dann sind das wohl nicht die Freunde der Polizisten, sonst würden sie ja die nicht erschießen. Die Polizisten sind von der Regierung Janukowitsch gestellt, wenn die Snipers die Polizisten erschießen ist es unwahrscheinlich, daß das die gleiche Gruppe ist. Ist nichts bewiesen, aber ich sag nur, hier wird Chaos generiert. Und wenn ich zurückgehe, 1953 wurde ja im Iran die Regierung Mossadeq gestürzt [...]. Der englische und amerikanische Geheimdienst haben damals die Regierung gestürzt, (Jebsen wirft ein: “um eine demokratische Regierung aufzubauen) Genau, eine demokratische... also, das, dies Gerede mit der Demokratie hat dort ein Ende wenn man sieht: die wollten die Rohstoffe des Irans. [...] Wer die Wirtschaftskriege studiert, dem fällt es wie Schuppen von den Augen. Aber der Hauptpunkt, den ich machen wollte: man hat damals in Teheran, der Hauptstadt vom Iran, auch Terroranschläge inszeniert. Und wir haben jetzt die offizielle CIA-Geschichte, zu [...]diesem Regierungssturz 1953 und da schreibt die CIA selber, daß man Agenten verkleidet hat, als Muslime, und dann hat man sozusagen Terroranschläge durchgeführt. Das ist False Flag Strategy of Tension, so nennen wir das, also unter falscher Flagge die Spannung erhöhen. Und es könnte sehr gut sein, ich habe sehr den, diesen Eindruck, daß in der Ukraine genau das gleiche passiert ist. Das heißt dieser Regierungssturz in der Ukraine könnte sein, daß man einfach sagt, wir haben hier jemanden installiert, Poroschenko, der das Land längerfristig dem Westen anbindet und in die NATO führen möchte, während umgekehrt die Russen natürlich versuchen werden, in dem sie die Erdgaslieferungen unterbrechen,dieses Regime Poroschenko wieder zu stürzen. Und das ist für mich ein klassisches Beispiel von einen Ressourcenkrieg kombiniert mit Geostrategie [...].