Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

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Dienstag, 25. Februar 2014

Jörg Baberowski: Wissenschaftliche "Meinung" vor politisch veränderter Szenerie

Prof. Dr. Jörg Baberowski hatte mich eingeladen. Am 26. Mai 2004 trug ich an der Humboldt-Universität in Berlin in seinem Colloquium„Oberseminar zur Geschichte Osteuropas“ mein Dissertationsprojekt zu den Ursprüngen genozidaler Gewalt in der Kolonialgeschichte des Westkaukasus vor. Ich stand damals knapp vor meinem Universitätsabschluß und hatte Thema und Konzeption meiner Doktorarbeit während des Schreibens an meiner Magisterarbeit entworfen - einer Arbeit, die von beiden Betreuern, einer davon Prof. Dr. Baberowski, überaus gelobt worden war. Kritik an der Konzeption meiner Doktorarbeit, meiner Methodik und meinen theoretischen Grundlagen gab es in Berlin keine. Von meiner Projektvorstellung (zum damals gehaltenen Vortrag als PDF geht es hier) an der HU war Prof. Baberowski so angetan gewesen, daß er mir nachträglich noch folgenden Brief (*) schickte:



Bei dem Aufsatz, um dessen Zusendung Prof. Baberowksi gebeten hatte und von dem hier die Rede ist, handelt es sich um eine der zentralsten zeitgenössischen Publikationen (Adolf P. Berže: Vyseleni gorcev s Kavkaza. In: Russkaja Starina XXXII (1882), S. 161-176 und S. 337-363) zur, wie es in russischer Kolonialterminologie hieß, „endgültigen Befriedung“ des Kaukasus, d.h. zur Deportation der Tscherkessen. Dies wird später noch wichtig in Bezug auf die weitere Bewertung meines Projektes (siehe unten), ist aber auch in Bezug auf Baberowskis eigene "wissenschaftiche" Auseinandersetzung mit diesem Thema interessant (siehe nächster post).

Im Januar 2005 trat ich auf Wunsch und Einladung des anderen Betreuers meiner Magisterarbeit, Prof. Dr. Dietrich Beyrau, offiziell an der Universität Tübingen eine Stelle an, als wissenschaftliche Mitarbeiterin im „SFB 437 Kriegserfahrungen“, einem drittmittelfinanzierten Forschungsverbund. Damit begann die praktische Arbeit an meinem Forschungsprojekt, d.h. die wissenschaftliche Umsetzung der geplanten Doktorarbeit. Nach mehrmonatigen Bibliotheks- und Archivaufenthalten im Ausland, zwei Pflichtkonferenzen des SFB 437 und einigen wenigen anschließenden Wochen der Lektüre sollte ich am 2. Dezember 2005 mein Vorhaben und, wo möglich, die ersten Forschungsergebnisse auch mündlich im Kreis der anderen SFB-Mitglieder vorstellen. Bei diesen „Projektpräsentationen“ am Ende des ersten/ Anfang des zweiten Beschäftigungsjahres handelt es sich um eine Art Aufnahme-Ritual des Sonderforschungsbereichs für seine Mitarbeiter. Dabei übt ein „Kommentator“ - in der Regel ein von außerhalb eingeladener Senior-Kollege, von dem man annimmt, daß er vor dem Hintergrund des eigenen Fachwissens auf dem jeweiligen Forschungsgebiet ein unabängiges Bild liefern könne -  Kritik am vorgestellten Projekt und nimmt damit eine erste Einschätzung von dessen wissenschaftlichen Qualitäten vor.

Diese Rolle des Kommentators meiner Tübinger Projektvorstellung fiel erneut Prof. Dr. Jörg Baberowski zu. Der Hintergrund für die erneute Inanspruchnahme Baberowskis war sowohl eine interne Fehlkommunikation wie sie im Sonderforschungsbereich 437 so oft vorkam, wie auch ein Hinwegsetzen über Strukturen, die Mitarbeiterbeteiligung vorsahen. Ich selbst hatte, da ich ja glaubte, die Meinung Prof. Baberowskis zu meinem Projekt schon zu kennen, nicht an einer bloßen Wiederholung der Berliner Veranstaltung, sondern an neuen Perpsektiven und Kritik aus anderem Blickwinkel Interesse gehabt. Ich hatte deswegen von meinem Vorschlagsrecht Gebrauch gemacht und einen Ottomanisten, der in Harvard promovierte, als Kommentator gewünscht. Nicht zuletzt deswegen, weil ich mit meinem Kaukasus-Thema auch einen Brückenschlag zwischen Osteuropa-Wissenschaft und Osmanischer Geschichte im Blickfeld gehabt hatte und hier dann eben auch auf ein Urteil und Anregungen von außerhalb der Osteuropa-Wissenschaften angewiesen war.

Der Harvard-Kollege trug allerdings einen Namen, der auf seine türkischer Herkunft hinwies, was mein Doktorvater Prof. Dr. Beyrau zum unmittelbaren Anlaß nahm, mir mitzuteilen, er habe schon etliche türkische Studenten gehabt, von denen "aber noch keiner wirklich etwas gewesen" sei. Demzufolge gab er sich auch gegenüber dem Ph.D. Candidate aus Harvard unumwunden skeptisch. (Ich erwähne dies hier auch deswegen als Neben-Thema, weil ich im Verlaufe meiner Anstellung im SFB 437 derartige vorwissenschaftliche Urteilsfindungen, durch rassistische Ansichten, Eurozentrismus und mangelnde Selbstreflexion geprägt, als recht charakteristisch für das Tübinger Arbeitsumfeld erlebt habe.)

Dieses potentielle Problem löste sich - wenn auch nicht zu meiner Zufriedenheit - damit, daß der Projektleiter, Prof. Dr. Dieter Langewiesche, ohne jegliche Absprache mit den anderen Beteiligten Prof. Baberowski als Kommentator einlud und sich damit auch über mein Vorschlagsrecht hinwegsetzte.

Prof. Langewiesche wußte dabei offenbar nicht, daß ich das Projekt bereits zu dessen vollster Zufriedenheit bei Prof. Baberowski in an der HU vorgestellt hatte und damit dessen wissenschaftliche Meinung bereits eingeholt war. Langewiesche hat demzufolge das getan, was man an der Tübinger Universität sowieso gerne tat: alte Bekannte - Prof. Baberowski war an der Historischen Fakultät in Tübingen habilitiert worden und hatte erst kurz zuvor nach Berlin gewechselt - als "kritisches Fachpersonal" von außen zum "wissenschaftlichen Austausch" einzuladen (zusätzlich evtl. auch aufgrund Baberowskis Rolle als DFG-Gutachter). Ein Blick über den eigenen Tellerrand, vielleicht gar über Fachgrenzen hinweg wurde dagegen meiner Erfahrung nach nicht gern gesehen, er galt z.T. sogar als recht unerhört und ist mir später auch explizit zum Vorwurf gemacht worden.  Natürlich hat mich die Art und Weise, wie mein Kommentator festgelegt wurde, geärgert und mich zudem vor das Problem einer Wiederholung des bereits Gesagten gestellt An der Person selbst hatte ich jedoch nichts auszusetzen, da ich selbst immer ein sehr positives Bild vom Wissenschaftler Baberowski gehabt und ihn aufgrund seiner Theorienähe und seines Interesses an außereuropäischen Zusammenhängen geschätzt hatte.

Die Eingrenzung meines Themas und die daran gestellten Fragen waren seit dem Erstentwurf meines Projektes im wesentlichen unverändert geblieben. Bereits bei meinem Vortrag in Berlin hatte ich im Titel (**)  auf die Praxis militärischer „Säuberungen“ verwiesen. Im Vortrag selbst hatte ich erwähnt, daß die russische Eroberungspolitik auf „eine Strategie der verbrannten Erde, auf Zerstörung der Dörfer und Vertreibung ihrer Bewohner“ gesetzt hatte und das Vorgehen der frühen 1860er in zeitgenössischen Quellen u.a. als „Säuberung“ bezeichnet worden war. Als Forschungsziel hatte ich bereits damals benannt gehabt, „die russische Befriedungspolitik auf die Frage hin untersuchen, ob sie als Teil einer gesamteuropäischen Genealogie von Vertreibungen und Säuberungen begriffen werden“ könne“, und „inwieweit für die politische Entscheidungsebene tatsächlich von einer Vernichtungsintention die Rede sein kann und somit eine Klassifizierung der russischen Befriedungspolitik als moderner Genozid gerechtgertigt wäre“.

Da es sich um einen mündlichen Vortrag gehandelt hatte, war ich bei meinem Vortrag in Berlin nicht im Detail auf den theoretischen Hintergrund dieses Forschungsansatzes eingegangen, hatte diesen zuvor jedoch in meinem SFB-Antrag ausdrücklich dargelegt. Ich hatte dabei explizit Bezug genommen auf eine Denkrichtung, „die Gewalt nicht über das Fortbestehen archaischer Traditionen oder nicht als einen Rückfall in die Barbarei erklärt, sondern als integralen Bestandteil der Kultur der Moderne begreift“, samt Nennung der „Größen“ dieses Forschungsfeldes, das auf die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt zurückgeht. Kurz: daß mich die Vorgänge im Westkaukausus im 19. Jahrhundert vor allem im weiteren Rahmen der internationalen und vergleichenden Genozidforschung interessierten, hatte ich von Anfang an deutlich und unmißverständlich offengelegt. Zudem war meine Orientierung an postkolonialer Theorie Prof. Baberowski bereits durch die von ihm bewertete Magisterarbeit bekannt gewesen.

Weltbewegend neu war im Dezember 2005 im Vergleich zum Vorjahr deswegen an der theoretisch-methodischen Ausrichtung meines Projektes nichts gewesen. Ich stellte erneut dar, daß für mich die gedankliche Möglichkeit leitgebend gewesen war, daß die Vorstellung von sogenannten "niederen", "unproduktiven" oder auch "rückständigen" Völker, die zu vernichten seien, Teil eines europäischen kulturellen Erbes sein könne und damit genozidale Momente nicht einem gelegentlichen Rückfall in "barbarische" Verhaltensweisen, einem Zivilisationsbruch geschuldet, sondern in die europäische Moderne eingebaut seien. Ich zitierte in diesem Zusammenhang auch Sven Lindqvists pointierte Feststellung, daß "der Gedanke der Ausrottung" "nicht weiter vom Herzen des Humanismus entfernt" liege "als Buchenwalt von Goethes Haus" - was einigen der Herren Professoren (und ich schreibe bewußt "Herren", denn von ihrer Seite kam am meisten böses Blut) aus Tübingen dann doch sehr mißfallen haben dürfte.

Vor dem Hintergrund einer nun breiteren Quellen- und Faktenbasis hatte sich mir die Säuberungs-Absicht der russischen Machthaber und die Planhaftigkeit ihres Vorgehens konkretisiert.  Dies wollte ich bereits mit dem Titel meines Vortrags mit "Warum erinnert er in jeder Mitteilung an die erfrorenen Körper, die den Weg bedecken?" zum Ausdruck bringen. Es handelte sich dabei um ein Zitat aus einer historischen Quelle, die sich durch ihre graphische Anschaulichkeit abhob von anderen zeitgenössischen Quellen, die sich einer bürokratisch-sterilen Sprache bedienten und das Schicksal der Tscherkessen absichtlich ausklammerten, und die dabei diese Praxis des Ausklammerns gleich mitthematisiert. Der historische Sachverhalt der gezielten Säuberung  selbst ergibt sich jedoch auch aus denjenigen Quellen, die in einer jeglicher Emotionalität beraubten Sprache die Kette der Anweisungen und Befehle dokumentieren. Am historischen Gegenstand also ändert die von mir zitierte Quelle nichts, den Unterschied für den Zuhörer macht die andersgeartete Wirkung, wenn im Gegesatz zu den üblichen diskursiven Praktiken denn auch einmal vom Schicksal der betroffenen Menschen die Rede ist.

Frappierend war allerdings dann die erneute Beurteilung meiner Konzeption und bisherigen Arbeit durch Prof. Jörg Baberowski. Er hob in seiner Stellungnahme am 2.12.2005 zunächst ganz wesentlich auf seine eigenen wissenschaftlichen Befindlichkeiten und die Veränderungen, die diese erfahren hatten, ab: er habe erkannt, daß seine frühere Vorliebe für Zygmunt Bauman (als einer der prominentesten Vertreter, der These, daß genozidale Gewalt gewissen Denktraditionen der europäischen Moderne entspringe) falsch gewesen sei und empfahl mir dringendst, von Bauman, d.h. vor allem in Bezug auf die Konzeption meiner Arbeit, Abstand zu nehmen. Es sei, so der Berliner Experte, besser, ich würde die Ungeeignetheit von Bauman - wie er auch - rechtzeitig selbst erkennen, als daß ich im Nachhinein durch die Kritik Anderer meinen theoretischen Irrtum einsehen und meine Thesen revidieren müsse.

Nun hatte Baberowski, was mir bis zu dieser Offenbarung in denkbar ungeeignetem Rahmen nicht deutlich geworden war, tatsächlich seit unserem Berliner Aufeinandertreffen im Vorjahr einen recht umfassenden und tiefgreifenden Richtungswechsel vollzogen. Schriftlich dokumentiert wurde diese - wohl kaum als theoretisch fundiert zu bezeichende - Umorientierung allerdings erst später und hat mich demnach auch recht unvorbereitet getroffen - ich war schlicht und einfach entsetzt. Was sich damals erst angedeutet hat, ist heute, mit dem Erscheinen von Baberowskis neuem Monumentalwerk "Verbrannte Erde" für jedermann nachlesbar: das 2012 veröffentlichte Buch stellt im Wesentlichen eine revisionistischen Neuinterpretation von Baberowskis vorangegangenen Werks "Der Rote Terror" dar. Baberowski schreibt in seinem neuen Buch bereits im Vorwort, daß er 2003 (nebenbei gesagt das Jahr der Bewertung meiner Magisterarbeit durch ihn) Zygmunt Bauman noch für eine "Offenbarung" gehalten habe, ihm in den darauffolgenden Jahren seine bisherige, auf ihm beruhende Stalinismus-Interpretation als "Unfug" erschienen sei (siehe Vorwort von "Verbrannte Erde", S. 10).

Die Veränderungen sind tiefgreifend und eschöpfen sich nicht in einem Wechsel des theoretisch-methodischen Herangehens, bedeuten vielmehr dessen Supsendierung: anstelle von sozialwissenschaftlicher Theorie und Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen setzt Baberowski nun eine Fixierung auf die Psychopathologie von Stalin als Alleinherrscher - ohne dabei geeignete psychologische Ansätze zur Hilfe zu nehmen - sämtlicher theoretischer Ballast scheint damit über Bord geworfen. Die Suche von strukturellen Erklärungen für die stalinschen Gewaltexzesse über eine Ideen- oder gar Diskursgeschichte sind passé, Baberowksi ist mittlerweile klar geworden, "daß Ideen nicht töten", sein neues Credo lautet: "Gewalt ist ansteckend" (Verbrannte Erde, S. 11). Auch diese Abkehr von kulturwissenschaftlicher Theorie hatte sich zum Zeitpunkt der "Besprechung" meines Projektes im SFB 4437 bereits angedeutet: in informaler Runde im Anschluß an meinen Vortrage riet mir Prof. Dr. Baberowski, der ehemals auch Philosophie studiert hatte, sämtliche Theorie im Vorwort meiner Arbeit abzuhandeln, dann sei ich sie los und könne mich im Haupttteil auf das Eigentliche konzentrieren - er handhabe dies auch immer so.

Der beschriebene Richungswechsel Baberowkis war zum einen persönlichen Präferenzen geschuldet, zum anderen auch - wie in diesem und in meinem nächsten post noch näher dargelegt wird - veränderten politischen Rahmenbedingungen. Die Sichtweise, die Ursprünge genozidaler Gewalt auch in Elementen der europäischen Moderne zu verorten, ist aufgrund der darin enthaltenen Kritik an der europäischen Identität zwar nach wie vor nicht besonders beliebt, jedoch keineswegs überholt oder widerlegt (siehe hierzu etwa Jürgen Zimmerer, "Colonialism and the Holocaust. Towards an Archaeology of Genocide" im von Dirk H. Moses herausgegebenen Buch Genocide and Settler Society), sondern um eine lange Zeit brachliegendes Forschungsfeld, das in den letzten Jahren eine Wiederaufnahme erfahren hat. Ich empfand und empfinde es daher als überaus irritierend, daß mein Senior es als Selbstverständlichkeit voraussetzte, daß ich ihm seinen Revisionismus umgehend nachtun würde -  und das auch ganz ohne eine entsprechend stringente, plausible Argumentationsführung hierfür. Wenn ein Herr Baberowski seine Meinung ändert, ist damit nicht ein ganzer international praktizierter Forschungszweig obsolet.

Noch erstaunlicher allerdings war für mich, daß sich mit dem veränderten Forschungsansatz auch die harten Fakten und historischen Abläufe verändert zu haben schienen. Nicht nur schien Baberowski an meiner Arbeit nur noch wenig Gefallen zu finden, avancierte in seinem Urteil meine Konzeption von exzellent zu wissenschaftlich unhaltbar: auf meinem Berliner Vortrag nicht angezweifelte historische Hergänge wurden nun als unbewiesene Tatsachenbehauptungen kritisiert. Mein Kommentator warf mir vor, daß ich die vom russischen Staat organisierten "Aussiedlung" der Tscherkessen als gegebenen Fakt dargestellt hätte, obwohl diese Aussiedlungen doch lediglich als unverwirklichte Vorhaben existent gewesen seien, M. T. Loris-Melikov als Träger dieser Ideen habe diese letztendlich nicht umsetzen können. Der wahre Kern dieser Behauptung ist, daß der russische General Loris-Melikov - der zwar einer der Befürworter, aber nicht der Urheber des "Aussiedlungs-"Plans gewesen war - die im Westkaukasus verwirklichte Politik umgehend auf die Tschetschenen hatte übertragen wollen, dieses Vorhaben dann aber vor dem Hintergrund veränderter politischer Rahmenbedingungen Politik zunächst bei der Aussiedlung von 5000 tschetschenischen Familien stehenblieb.

Ob Baberowski hier einfach nur schlampig vorbereitet und schlecht informiert war, die Vorgänge im West- mit denen im Ostkaukasus verwechselt hatte und die Planung fälschlicherweise Loris-Melikov zuschrieb, bzw. woher diese aus der Luft gegriffenen und noch dazu in plötzlicher Amnesie zum Vorjahr bewerkstelligten Behauptungen, es habe im Westkaukasus keine planmäßigen Aussiendlungen und Vertreibungen gegeben, kamen, vermag ich in letzter Konsequenz nicht zu sagen. Nachzulesen gewesen wäre die Richtigkeit meiner Angaben nicht nur in dem Aufsatz Adolf Berzhes, von dem Eingangs die Rede war, sondern u.a. auch in einer Sammlung russischer Originalquellen (R. U. Tuganov, Hrsg.: Tragicheskie Posledsvija Kavkazskoj Voiny Dlja Adygov. Votoraja Polovina XIX. - nachalo XX veka, Nalchik 2000), die ich im Anschluß an die Veranstaltung auch Baberowski empfahl. Er meinte hierzu, er würde bei Gelegenheit auf mein Angebot, ihm die entsprechenden Quellen Verfügung zu stellen, zurückkommen, hat dies aber nie getan. Die bereits damals vorhandene englischsprachige Sekundärliteratur zum Thema scheint ihn ebenfalls nicht interessiert zu haben. Umgehen konnte ich damals mit derartigen Verhaltensweisen nicht, denn ich hatte gelernt, mit wissenschaftlichen Argumenten zu streiten und nicht, mich in einer ungleichen Situation gegen politische Interessen, die sich nicht mal als solche zu erkennen gaben, zur Wehr zu setzen.

Für mich war das Baberowski'sche (Fehl-)Urteil der Anfang vom Ende. Es ist nicht die Ursache meiner Probleme in Tübingen gewesen, diese waren nicht zuletzt auch struktureller Art, denn ein Projekt wie meines war in der "theoretischen" Konzeption des SFB 437 gar nicht vorgesehen gewesen, es gab aber das Fanal zu unsachlicher und sehr persönlich werdender Kritik. Etlichen meiner Tübinger Kollegen war nicht nur die "exotische" Beschäftigung mit Gewalt, die von weißen Europäern einer als muslimisch geltenden Bevölkerungsgruppe angetan worden war, gegen den Strich gegangen, auch die Arendtsche Ausgangsthese an sich reicht in rechtstkonservativen Historikerkreisen mitunter schon aus, um Anlaß zu Unbehagen und emotional aufgeladenen Reaktionen zu gegeben. Mit dem baberowskischen Urteil hatten meine Vorgesetzten ihren - wohl recht willkommenen - Beleg dafür erhalten, daß mein Ansatz fehlerhaft und die wissenschaftliche Qualität meines Projektes zweifelhaft sei.

Daß man sich mit einer kritischen Haltung - teilweise abfällig "Kulturpessimismus" genannt - gegenüber europäischem Ethnozentrismus und abendländischen Mythen  in deutschen Wissenschaftskreisen nicht gerade beliebt macht und mein Weg dadurch schwieriger werden könnte, war mir klargewesen. Daß dabei Abwehrreflexe, Schuldkomplexe, Haß auf Abweichler und derart den Blick vernebeln würde, und wissenschaftliche Regeln, menschlicher Anstand und jeglicher Sinn für Fair Play abgelegt werden würde, das hatte für mich jedoch jenseits des Denkbaren gelegen. Die Chance einer sachlichen Beurteilung meines Projektes durch die Projektoberen, die Möglichkeit einer ruhigen, fairen Auseinandersetzung auf wissenschaftlichem Terrain habe ich in Tübingen nie wieder erhalten. Keiner meiner Vorgesetzten dort hat sich die Mühe gemacht, mein theoretisch-methodisches Rüstzeug auf seine Angemessenheit hin zu überrüfen, die Richtigkeit meiner Thesen nachzuvollziehen, einen Abgleich mit Quellen und Sekundärliteratur vorzunehmen und jenseits aller Interpretationen die unumstößlichen Fakten zu eruieren.

Mündliche Beiträge meinerseits wurden ignoriert, schriftliche Arbeiten nicht gelesen. Quellen- und Literaturlisten, Dinge wie der internationale Forschungsstand waren uninteressant und wurden einfach weggewischt. Die immer persönlicher gehaltenen Anschuldigungen und väterlich-besorgt vorgetragenen, wissenschaftlich unbelegten aber dafür geradezu obstinativ wiederholten "Bedenken" und Einwände rissen nicht ab. Meine „Probleme“ wurden immer weiter kolportiert, wobei ihr Charakter dabei wie von selbst an Raum zu gewinnen schien: erst waren es Quellenprobleme, dann handelte es sich um "massive Probleme mit meiner Doktorarbeit", danach transformierte sich dies zu Schwierigkeiten persönlicher Natur und einer angeknacksten Psyche.

Der Richtungswechsel Baberowskis, um auf diesen zurückzukommen, war mehr als ein persönlicher Spleen. Sein Schwenk reiht sich ein in ein breiteres Phänomen, daß bei Tübinger Geisteswissenschaftlern seit spätestens dem 11. September 2001 zu beobachten gewesen war. Zuvor durchaus durch kritische Haltungen bekannte Akademiker sind reihenweise, einer nach dem anderen, umgefallen und haben sich zum Nachteil ihrer wissenschaftlichen Redlichkeit von Politik und Militär vereinnahmen lassen. Hatte sich Baberowski anfänglich über den Kurswechsel bei den Tübinger Ethnologen regelrecht mockiert und war er empört gewesen angesichts deren Andienung an die Terrorismusforschung mittels wissenschaftlich kruder und teilweise auch ethisch verwerflicher Thesen und wissenschaftspolitischer Forderungen, so ist bei ihm selbst diese distanziert-kritische Haltung dann ebenfalls nicht von langer Dauer gewesen.

Vor dem Hintergrund eines wiedererstarkenden deutschen Nationalgefühls und einer zunehmend militärisch ausgreifenden Interessenspolitik jenseits der europäischen Grenzen verwundert es nicht, daß die postmoderne Selbstreflexion des weißen Mannes und Kolonialismuskritik zunehmend als "out" angesehen werden: gewalttätig ist den politischen Vorgaben entsprechend der Andere, das Fremde, das eingehegt und den eigenen Vorstellungen entsprechend geformt und umgestaltet werden muß. Hingegen bedienen wir uns als Vertreter eines modernen Staatswesens des Krieges zum Zwecke, weltweit Frieden und Wohlstand zu sichern. Gewalt als monströses Phänomen der Zerstörung und Vernichtung muß damit als prämodern erscheinen, Hannah Arendts Totalitarismus-These als passé. Wissenschaftler sind erneut dazu da, den Feind zu erklären. Und wer selbst mit dem Militär anbandelt, der wird auch entsprechend wenig Interesse an einer selbstreflexiven Aufarbeitung der historischen Verflechtungen und Komplizitäten zwischen Kriegsgeschäft und Wissenschaft haben. Gestern wie heute passen wissenschaftlicher Diskurs und politische Zielsetzungen hier zusammen.

Allzu schwer gefallen sein wird Baberowski seine Umorientierung hin auf zeitgenösssische Anforderungen auch eher nicht. Der ehemalige Maoist, der als Schüler sogar für Pol Pot Geld gesammelt haben will, hat sich schon einmal rechte Diskurszusammenhänge zu eigen gemacht: er hatte, wie ich erst seit kurzem weiß, auch in den 1980ern im deutschen Historikerstreit  Ernst Noltes Seite ergriffen. Beim Historikerstreit hatte es sich im Wesentlichen um den Versuch einer Neubewertung der deutschen Schuldfrage gehandelt: Noltes These zufolge war zum einen die Gewalt der Sowjets aus asiatischen Ursprüngen erwachsen, zum anderen sei der Nationalsozialismus eine Reaktion auf den Boschewismus gewesen, der Rassenmord der Nazis habe damit den Klassenmord der Sowjets kopiert. Die nun erneute Rückkehr Baberowskis zu diesen Thesen demonstriert meines Erachtens, daß das Wandern zwischen Linksfaschismus und ziemlich rechts nicht so raumgreifend sein muß, wie es vielen vielleicht auf den ersten Blick scheint.

Meine Tübinger Zeit muß hingegen in eine linksliberale Zwischenphase Baberowskis gefallen sein. Von Nolte war in dieser Zeit gar nichts zu hören gewesen. Schritt für Schritt ist er dann von seiner damaligen herrschaftskritischen Sichtweise mit reichlich Bezugnahmen auf Bauman wieder abgerückt. Im Jahr 2008 erschien bewaffnete staatliche Gewalt in der baberowskischen Lesart nicht mehr als Ursache von Terror und Vernichtung, sondern als "Voraussetzung des Friedens". Die Ursachen der stalinschen Gewaltorgien wurden zunehmend vom europäischen Zentrum in staatferne Gewalträume an den (asiatischen) Peripherien des russischen Reiches (zurück-)verschoben. Wenn er Stalins Hang zu Gewalt an "archaischen Vorstellungen von Freundschaft, Treue und Verrat" festmacht (S. 30, aber auch S. 37 zu Baberowskis seltsamen Vorstellungen von dörflicher Rechtskultur bzw. deren Abwesenheit, wie auch die diesbezügliche Besprechung in der Zeit), vermittelt er damit zumindest unterschwellig den Eindruck, die Vebrechen der Sowjetunion hätten kausal mit der Heimat Stalins und einer von Baberowski auch schon früher behaupteten Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie und der "kaukasische(n) Räuberbande" als Herrschaftsmodell zu tun gehabt.

Wie ein erst vor wenigen Tagen im Spiegel erschienener Bericht zur Neuauflage des deutschen Historikerstreites schildert, hat Baberowski mittlerweile seinen Hitler-Stalin-Vergleich so weit getrieben, daß er nicht nur die Thesen Noltes als "historisch gesehen richtig" bezeichnet, sondern sogar meint, Hitler sei "kein Psychopath" und "nicht bösartig" gewesen, wohingegen Stalin regelrecht Freude an Gewalt gehabt hätte, er sei im Gegesatz zu Hitler tatsächlich ein bösartiger Psychopath gewesen. Sicher ließe sich einräumen, daß bei derartigen Aussagen auch eine Spur Ikonoklasmus mitschwingt und ein baberowskischer Hang zur Selbstinszenierung als Enfant Terrible, seine Gewohnheit, mit provokanten Thesen für Aufmerksamkeit zu sorgen. Allerdings geht ihm denn auch hier das modische Gespür für den Zeitgeist nicht ab, fügt er sich vielmehr ganz un-subversiv ein in breitere Tendenzen.

Baberowski hat denn auch selbst an anderer Stelle - was dem Spiegel-Artikel wohl entgangen war - explizit den relativierenden Charakter der von ihm favorisierten Vergleiche eingeräumt, und dabei wieder einmal von "Unfug" gesprochen: "Wer vergleicht, relativiert. Vergleichen heißt, eine Sache im Lichte des Verglichenen zu sehen. Man bringt die verglichenen Gegenstände in eine Relation, wenn man vergleicht. So gesehen wird der Nationalsozialismus durch Vergleiche relativiert. Wie könnte es auch anders sein? Die Rede von der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Nationalsozialismus ist Unfug. Wer vergleicht, setzt nicht gleich, sondern hebt das Besondere einer Sache heraus, die nur durch Kontrastierung überhaupt kenntlich wird." Pikant ist, wenn man wie hier einerseits einen weiteren Horizont und Vergleiche mit Gewaltexzessen im Osten fordert, dann aber selbst vergleichende Ansätze, die nicht der Relativierung, sondern dem Herausarbeiten einer der Ursprungslinien des nationalsozialistischen Terrors dienen könnten, selbst unterläuft und blockiert.

Mit Motivation und intellektuellem Niveau vergleichender Genozidforscher haben die Aussagen Baberowskis im mit ihren polemischen Untertönen ("Holocaust-Forschung war Deutschland-Forschung. Und als solche diente sie zugleich der politischen Pädagogik in der alten Bundesrepublik.") wenig gemein. Daß ein vergleichender Zugang auch etwas völlig anderes bedeuten kann, zeigt etwa Mihran Dabag, der auf die gleiche Frage nach dem Sinn komparativer Genozidforschung folgende Antwort gibt: "Der vergleichende Zugriff bedeutet dabei keineswegs eine Relativierung des Nationalsozialismus, sondern dient seiner Einordnung in breitere historische und gesellschaftliche Kontexte. Relativierungstendenzen bestehen erst dann, wenn Einmaligkeit und Einzigartigkeit gegeneinander ausgespielt werden: Einmalig sind im Grunde alle historischen Ereignisse; sie wiederholen sich nicht in identischer Art und Weise."
 
Vor dem von deutscher Neupositionierung geprägten, veränderten "Deutungshorizont", wie meine Historiker-Kollegen gestelzt zu sagen pflegen, wirkt das Unbehaben, das nicht nur Baberowski gegenüber meinem Projekt empfand, denn durchaus konsequent. Was gestern noch "in", schick und auf angenehme Weise provokant schien, gilt heute, auch wenn es wissenschaftlich nicht widerlegt ist, in einem Akt der Amnesie als "falsch" und unangemessen. Ich hatte jedoch das außergewöhnliche Pech und das Glück, daß mir vor politisch verändertem Kontext zwei mal - in dazu noch einigermaßen kurzem zeitlichen Abstand - der gleiche Wissenschaftler als Gutachter zufiel. Was ohne diesen zufälligen - und von der Projektleitung wohl nicht realisierten - Umstand als persönliches, aber kontext- und politikunabhängiges Negativurteil hätte durchgehen können, gewinnt vor dem konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund die Qualität einer politisch motivierten Meinungsverschiebung und entlarvt sich damit selbst als außerwissenschaftlich motivierte Bewertung.

Mir selbst fehlt es dagegen, anders als meinen wissenschaftlichen "Erziehern", an Einsicht in Nutzen und Schaden diverser theoretischer und thematischer Konjunkturen der Wissenschaft. Mir fehlte in Bezug auf meine akademische Karriere die entsprechende politische Flexibilität und Wendigkeit und damit ein Verständnis dessen, was als "gut" für mich zu gelten hat. So läßt sich letztlich auch Baberowsis Kommentar auf der Abschlußkonferenz des SFB 437 im Dezember 2008 verstehen: Als ich dort eine Diskussion um wissenschaftliche Verantwortung anmahnte, die gegen mein Projekt getätigten Zensurmaßnahmen andeutete und die von mir frisch entdeckten und damals noch von oberster Stelle abgestrittenen Verbindungen des SFB 437 zu militärischen Institutionen und Interessen in Gestalt des MGFA Potsdam kritisierte, wurde mir umgehend vom damaligen Sprecher des SFB 438 Prof. Anton Schindling das Rederecht entzogen. Schindling hat mit damals vor allen Anwesenden mit juristischen Konsequenzen für die von mir angeblich begangene "üble Nachrede" und "Verleumdung" gedroht. Baberowski - so hat mir später ein mir wohlgesonnener Kollege berichtet - der im Publiku saß, habe dabei über mich, nicht Schindling, den Kopf geschüttelt und "die spinnt ja" gesagt.

                                                                                                Irma Kreiten


Alles nur Phantomschmerz? - Jörg Baberowski (links) als Gastreferent beim MGFA in Potsdam (hier bei einer Veranstaltung von 2009)

In meinem nächsten Post schildere ich, wie sich die Kooperation von Prof. Dr. Jörg Baberowski mit dem MGFA in seiner wissenschaftlichen Arbeit inhaltlich niedergeschlagen hat und konkret in Bezug auf seinen Umgang mit der Kolonialgeschichte des (West-)Kaukasus und dessen Entvölkerung in den 1850ern und 1860ern zu tendentiösen Verzerrungen und geschichtsklitternden Fehldarstellungen geführt hat.
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(*) Rechtlicher Hinweis:  
Der an mich gerichtete Brief von Prof. Dr. Jörg Baberowski sowie die email von Prof. Dr. Dieter Langewiesche wurden hier von mir online gestellt im besten Wissen und Gewissen, daß sie keinerlei privaten Informationen enthalten und damit keine Persönlichkeitsrechte verletzt sind. Anlaß und Inhalt beider Schreiben sind beruflicher Natur, es geht bei ihnen um Herstellung und Dokumentation wissenschaftlicher Bewertungsprozesse, die ja bereits an sich transparent, nachvollziehbar und -prüfbar sein sollten. Ein etwaiges Dienstgeheimnis sehe ich mit ihrer Veröffentlichung nicht verletzt, da die in den beiden Schreiben enthaltenen Informationen keinen exklusiven Charakter hatten, die nicht für die Augen Dritter bestimmt gewesen wären. Ich betrachte eine öffentliche Einsicht in diese Dokumente, gerade auch im Hinblick auf die wissenschaftliche Aufarbeitung des Völkermords an den Tscherkessen in Deutschland und deren bisherige institutionel bedingte Verhinderung, vielmehr als von allgemeinem Interesse und damit moralisch und juristisch gerechtfertigt. 

(**) Der Titel meines Berliner Vortrags "Die russische Befriedungsgpolitik im Nordkaukasus des 19. Jahrhunderts: Zivilisierungsabsichten, wissenschaftliche Disziplinen und militärische "Säuberung"" ist mir heute zugegebenermaßen peinlich. Er entspricht nicht meiner ursprünglichen inhaltlichen und theoretisch-methodischen Konzeption, nicht meiner anfänglichen Formulierungen und auch nicht meiner heutigen Sicht. Er spiegelt vielmehr, insbesondere mit der Verwendung der Begriffe "Befriedungspolitik" und "Zivilisierungsabsichten" ohne entsprechende Anführungszeichen, die permanenten Eingriffsversuche, denen ich durch meine Vorgesetzten in Tübingen ausgesetzt war, wider. Heute würde ich mir derartige Manipulationen schlicht nicht mehr bieten lassen. Ich entschuldige mich damit bei allen, für die derartige Formulierungen zu Recht eine Beleidigung darstellen, für meine damalige unentschlossene, schwache Haltung.