Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Freitag, 23. August 2013

Erweiterte Anfrage

Folgende Anfrage wird von mir per email - parallel zu meinen Anfragen über Abgeordnetenwatch - an ausgewählte Bundestagskandidaten verschiedener Parteien versandt. Antworten werden in der Reihenfolge ihres Eintreffens von mir hier auf diesem blog publiziert. Grund für diese gesonderte längere Fassung meines Schreibens  ist das Limit von 2000 Zeichen bei Abgeordetenwatch, das einer qualifizierten Auseinandersetzung mit diesem schwierigen und weitgehend unbekanntem Thema enge Grenzen zieht. 

Erwünscht sind ausdrücklich auch Stellungnahmen von anderen Kandidaten, die ich ihm Rahmen von Abgeordnetenwatch (Anfragen-Limitierung!) nicht gesondert anschreiben konnte. 

Kontakt über: irmakreiten(a)gmail.com

Sehr geehrte(r)...

Anläßlich der Olympischen Winterspiele 2014, die während der nächsten Legislaturperiode in Sochi stattfinden sollen und damit auch ein weitgehend vergessenes Thema auf internationale Agenden zurückholen werden, möchte ich Ihnen - zusammen mit Vertretern auch anderer Parteien - folgende Fragen stellen:

  1. Ist Ihnen bekannt, daß es an der heutigen russischen Schwarzmeerküste und insbesondere der Gegend um Sochi im 19. Jahrhundert zu als „Säuberungen“ deklarierten Massakern und Deportationen kam, die aus heutiger Sicht als Völkermord bezeichnet werden können, aber auch damals bereits als drastischer Verstoß gegen internationales Recht und humanistische Werte betrachtet wurden? Was ist Ihre Haltung angesichts dieses Kolonialverbrechens? Welchen Stellenwert würden Sie einer wissenschaftlichen und politischen Aufarbeitung einräumen? Wie sehen Sie hier die mögliche Rolle Deutschlands als eines Landes, dessen eigene Geschichte untrennbar mit der Ausübung von genozidaler Gewalt verknüpft ist?

  2. Wie empfinden Sie angesichts der Ausrichtung von Olympischen Spielen, die gemäß ihrer Charta dem Frieden und dem kulturellen Austausch zwischen den Völkern dienen sollen, auf Völkermord-Territorium? Wie stehen Sie zur Auffassung auf tscherkessischer Seite, daß die Ausrichtung der Olmpischen Spiele ausgerechnet in Sochi als tiefgreifender symbolischer Akt zu werten ist und namentlich als Versuch, die Geschichte der Region ein weiteres Mal zu leugnen und zu überschreiben? Bereits jetzt steht fest, daß zumindest mit den großangelegten Bauarbeiten für Sochi 2014 Tatsachen geschaffen werden, die wohl kaum wieder rückgängig zu machen sind – sowohl was die Zerstörung eines hochempfindlichen und einmaligen alpinen Ökosystems betrifft als auch in Bezug auf die Beseitigung der historischen Spuren der tscherkessischen Präsenz in der Region (nordkaukasischen Berichten zufolge wurden im Zuge der Bauarbeiten auch tscherkessische Massengräber entdeckt und von den russischen Behörden stillschweigend beiseitegeschafft).
    Besteht Ihrer Ansicht nach hier Handlungsbedarf von Seiten einer internationalen Öffentlichkeit? Wie könnte oder sollte ein angemessenes und effektives Vorgehen Ihrer Meinung nach aussehen?

  3. Wie bewerten Sie die bisherige Rolle der deutschen Medien bei diesem Thema? Fühlen Sie sich persönlich ausreichend informiert über die historischen Hintergründe von Sochi 2014? Sind Ihnen die internationalen tscherkessischen Proteste gegen Sochi 2014, die damit auch auf eine umfängliche Mißachtung ihrer Geschichte, Kultur und Rechte verweisen, gegenwärtig? Wenn ja, woher schöpfen Sie Ihre Informationen? Woran liegt es Ihrer Meinung nach, daß zwar mittlerweile einigermassen umfangreich über LGBT-Proteste und entsprechende Boykottaufrufe berichtet wird, nicht aber über die Tscherkessen als ebenfalls von den Olympischen Spielen betroffene Minderheit? Wie müßte eine angemessene Berichterstattung aussehen und wie wären deutsche Medien zur Einhaltung ihrer Informationspflicht aufzufordern? Was steht Ihrer Ansicht nach einer ausgewogeneren Berichterstattung der deutschen Medien zum Thema Tscherkessen und Sochi 2014 möglicherweise im Wege und wie könnten etwaige derartige Hindernisse beseitigt werden? Könnten Sie sich vorstellen, sich selbst für mehr Öffentlichkeit hinsichtlich der beiden erstgenannten Problemkomplexe einzusetzen?

  4. Der Nordkaukasus gilt, in frappierendem Gegensatz zu seiner Nichtpräsenz und vermeintlichen Bedeutungslosigkeit in Medien und breiterer Öffentlichkeit, mittlerweile wieder als ernstzunehmender internationaler Krisenherd und nicht zuletzt auch als potentieller Einsatzort für die Bundeswehr. Welche Bedeutung messen Sie vor diesem Hintergrund wissenschaftlicher Aufarbeitung der Ursachen kriegerischer Gewalt in dieser Region und zivilem Engagement für einen friedlichen, demokratischen Nordkaukasus bei? Könnten diese Ihrer Ansicht nach möglicherweise einen Beitrag zur Verminderung des internationalen Konflikt- und Krisenpotentials im Nordkaukasus leisten und wenn ja, wäre dies wünschenswert? Sind Sie der Meinung, daß Deutschland entsprechenden zivilen bzw. zivilgesellschaftlichen Initiativen und ihrem demokratischen Potential ausreichend Aufmerksamkeit schenkt? Stimmen Sie mir zu, daß hier stärker gefördert und entsprechendes Engagement stärker belohnt werden könnte? Sehen Sie hier mögliche Interessenskonflikte mit internationalen wirtschaftlichen und geostrategischen Zielsetzungen? Was sind hier Ihre Prioritäten?

  5. Im Rahmen des Engagements für historische Aufarbeitung und Minderheitenrechte im West-/Nordkaukasus kommt es immer wieder zu Diskriminierungen und weitergehenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Aktivisten und Intellektuellen. Von Rußland ausgehende Einschüchterungsmaßnahmen bleiben, bis hin zu Morden wie jüngst dem an Medet Ünlü verübten, oft ungeahndet und von einer internationalen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Auch international gesehen stellen Kolonialgeschichte des Westkaukasus und die damit verbundene Thematik der nordkaukasischen Minderheitenrechte weiterhin Tabuthemen dar, deren Bearbeitung von zugleich mehreren Seiten unerwünscht ist und somit im Schatten der Öffentlichkeit mit entsprechenden Behinderungen und Sanktionen belegt werden kann. Dies kann, wie ich nicht zuletzt selbst in Deutschland erfahren mußte, u.U. erhebliche berufliche und persönliche Konsequenzen nach sich ziehen. Sehen Sie hier, in Bezug auf weitverbreitete Diskriminierung und faktische Schutzlosigkeit von Aktivisten und Intellektuellen mit Nordkaukasus-Bezug, Handlungsbedarf? Wenn ja, wie müßte ein verbesserter Schutz für zivilgesellschaftliche Initiativen und intellektuelle Aufarbeitung aussehen? Was könnte hierfür konkret in Deutschland getan werden bzw. wer käme hierfür in Frage, was müßte sich auf internationaler Ebene bewegen?

  6. Sind Sie informiert über die Präsenz einer tscherkessischen Diaspora auch in Deutschland? Haben Sie Kontakt zu nordkaukasischen Verbänden in Deutschland bzw. EU-weiten Vereinigungen oder wäre Kontakt zu diesen von Ihrer Seite aus erwünscht? Gibt es zur Unterstützung derartiger Zusammenschlüsse und Initiativen konkrete Angebote und Maßnahmen von Ihrer Seite/ von seiten Ihrer Partei, die Sie in diesem Zusammenhang erwähnen möchten?

Ich danke Ihnen im Voraus für Ihr Interesse,

Mit freundlichen Grüßen,
Irma Kreiten