Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

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Samstag, 6. Februar 2016

Der "rachsüchtige Tschetschene" - Wie die taz Kolonialrassismus befördert

Am 7.2.2015 ist in der TAZ ein Interview unter dem Titel: „Psychologin über Blutrache. „Eine grandios-narzisstische Geste“. - Womit wird die Selbstjustiz gerechtfertigt? Die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts über Gerechtigkeit und kollektive Kränkungenerschienen, das mir durch Tendentiosität und Unprofessionalität in mehrerlei Hinsicht aufgefallen war. Interviewt wird Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des in Frankfurt/Main beheimateten Sigmund Freud-Instituts, Interviewer ist ein noch sehr junger Redakteur, der bislang vor allem zu popkulturellen Themen geschrieben hatte, keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet des Wissenschaftsjournalismus vorzuweisen hatte und offenkundig fachlich um einiges überfordert gewesen war. Die TAZ-Redaktion hat sich offenbar nicht bemüßigt gesehen, auf meine kurzgehaltenen Hinweise auf die Problematik des Interviews mit Marianne Leuzinger-Bohleber einzugehen. Da die Redaktion ohnehin bereits über einen längeren Zeitpunkt hinweg mir gegenüber einen bemerkenswerten Mangel an Sinn für gute Umgangsformen bewiesen hatte, wähle ich nun den formellen Weg jenseits der Befugnisse der TAZ. Der hier folgende Text dient der Benennung meiner Kritik im Detail und ihrer sachgerechten Begründung. 
 
Tschetschenien, Hort der Terrorismusversteher

Ich beginne mit einer Analyse derjenigen im Interview getroffenen Aussagen, die mein eigenes wissenschaftliches Arbeitsgebiet (ethnologisch-historische Beschäftigung mit der russischen Unterwerfung des Nordkaukasus und den zugehörigen Kolonialdiskursen) am unmittelbarsten betreffen. Leuzinger-Bohleber tätigt im Interview Aussagen zu Tschetschenien und Tschetschenen als ethnischem Kollektiv, die eine hohe Suggestionskraft besitzen, geeignet sind, ohnehin in der westeuropäischen Bevölkerung vorhandene, massive Feindbilder „wissenschaftlich“ zu bestätigen und weiterzutradieren und darum so nicht stehenbleiben dürfen. In der fraglichen Passage beantwortet Leuzinger-Bohleber die Frage nach „kollektivpsychologische[n] Ursachen“ dafür, daß die Charlie-Hebdo-Attentate „nicht überall auf Unverständnis“ gestoßen wären, sondern in manchen Teilen der Welt „als verhältnismäßig wahrgenommen“ worden seien. Ich zitiere sie hier im Ganzen:

Ja, so gab es zum Beispiel in Tschetschenien Demonstrationen gegen Charlie Hebdo, in denen muslimische Gläubige die Karikaturisten beschuldigten, den Propheten und damit gläubige Muslims beleidigt zu haben. Dadurch trügen sie eine Mitschuld an ihrer Ermordung. Bei diesen Demonstranten spielen vermutlich die kollektiven Kränkungen durch die „Kriege des sogenannten Westens“ gegen Irak oder islamistische Terrorgruppen wie die IS durchaus eine Rolle.“

Frau Leuzinger-Bohleber leistet hier unzulässige kulturalistische Verkürzungen, die die politisch äußerst repressive Situation in Tschetschenien vollkommen ausklammern. Es wäre bereits den damaligen, problemlos erhältlichen westlichen Presseberichten zu entnehmen gewesen, daß die tschetschenischen Proteste gegen Charlie Hebdo von Kadyrow angeleiert und forciert worden waren und auch er selbst die zentrale Rede hielt, in der die "Beleidigung der religiösen Gefühle" durch Charlie Hebdo verurteilt wurde. Demonstranten berichteten, daß sie zur Teilnahme gezwungen worden waren.i Mit Druck und Drohungen inszenierte, nur scheinbar spontane Massenproteste“ sind für das Tschetschenien des von Putin unterstützten, autoritär regierenden Ramzan Kadyrow ohnehin nichts Unübliches.ii Auch dürften diese Proteste kaum ohne Billigung Moskaus erfolgt sein, die Demonstrationen in Tschetschenien lagen auf Kreml-Linie zumindest insofern, als die staatliche Informationsaufsichtsbehörde Roskomnadzor gewarnt hatte, daß die Weiterveröffentlichung von Charlie Hebdo-Cartoons in Rußland als Straftatbestand gewertet werden könne.iii

Die offizielle russische Reaktion auf Charlie Hebdo kann als ambivalent gewertet werden.iv In Richtung auf seine westlichen Gesprächspartner hin drückte der russische Präsident Bedauern aus. Das russische Boulevardblatt "Komsomolskaya Pravda" etwa wartete hingegen mit antiamerikanischen Verschwörungstheorien auf und erklärte ausführlich, aus welchen Gründen man sich gerade nicht mit Charlie Hebdo identifiziere.v Von Seiten eines Sprechers der Orthodoxen Kirche wurden – in einer Parallele zur Roskomnadzor-Verordnung – "religiöse Gefühle" explizit dem Recht auf freie Meinungsäußerung vorgeordnet.vi Den tschetschenischen Protesten gegen Charlie Hebdo schlossen sich auch russische orthodoxe Prälaten an, wohingegen zwei Demonstranten mit "Je suis Charlie"-Plakaten in Moskau festgenommen wurden. Eine Gruppe radikaler russisch-orthodoxer Aktivisten, die für ihren öffentliche Aktionen gegen "Blasphemie" bekannt ist, sah in dem Anschlag auf Charlie Hebdo sogar eine gerechte Strafe Gottes.vii
 
Von einer "archaischen" Gemütsverfassung des russischen Volkes, der orthodoxen Gläubigen oder gar der Tradition des russischen "Duells" als Form der außergerichtlichen Konfliktbearbeitung mit oftmals tödlichem Ausgangviii spricht Frau Leuzinger-Bohleber hier jedoch nicht, "Rachegefühle" als Movens kollektiven Handelns bleiben dem nichteuropäischen „Anderen“ vorbehalten, werden für den postsowjetischen Raum allein auf tschetschenische Muslime und deren nicht näher erläuterte Demütigungserfahrungen projiziert. Umgekehrt findet die Tatsache, daß Tschetschenen sich explizit gegen terroristische Vorgehensweisen ausgesprochen hatten, keinerlei Erwähnung. Akhmed Zakayev, Kopf der offiziell nicht anerkannten tschetschenischen Exilregierung “Itsckeria“, hatte sofort nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo eine Solidaritätsbotschaft an den französischen Präsidenten, an die Redaktion Charlie Hebdo und allgemein an "die Bürger Frankreichs" versandt, den Angriff auf die Satirezeitschrift scharf verurteilt und betont, daß gerade auch die Tschetschenen wüßten, was es heißt, wenn Journalisten und Menschenrechtler aufgrund deren Einsatzes für Menschenrechte und Demokratie umgebracht werden.ix Wie seltsam mutet es angesichts dessen an, wenn jemand, der über mögliche „Demütigungserfahrungen“ spekuliert, überhaupt nicht darüber reflektiert, daß solche gerade auch im Verwehren von – sehnlich erwünschten – demokratischen Strukturen gegeben sein könnten. 
 
Kurzum: Im entsprechenden Interviewabschnitt wird das mittlerweile international gängige Stereotyp vom ungehobelten, ungezügelten, gewaltaffinen Tschetschenen bedient. „Hard facts“ aus dem aktuellen Nachrichtengeschehen, die hier zumindest partiell korrigierend gewirkt hätten, werden ausgelassen oder verzerrend wiedergegeben. Der Redakteur läßt dies ohne kritische Nachfragen und Korrekturen einfach so stehen. Karikatur, wie sie im Interesse des Kreml Verbreitung findet.

Kolonialrassistische Stereotypen und ihre Verwendung in genozidalen Diskursen
Der „wilde Nordkaukasier“ ist keineswegs ein Produkt der beiden Tschetschenienkriege der 1990er oder einer nachträglichen Stereotypisierung einer international auffälligen, ethnisch konnotierten Tätergruppe, die entsprechenden Topoi gehen auf die blutige zaristische Kolonialisierung des Kaukasus im 19. Jahrhundert zurück, haben diese begleitet und begründet/legitimiert. Es existiert in hinreichendem Maße bereits (öffentlich zugängliche!) Fachliteratur zu diesem Thema, die ich hier – zusammen mit meinen eigenen Forschungen – in Ausschnitten bzw. wesentlichen Punkten vorstellen werde. Die Auseinandersetzung mit dem (Nord-)Kaukasus hat Rußland gerade im kulturellen Bereich in einem Maße geprägt, wie dies keine andere Region in der gesamten russische Kolonialgeschichte vermochte.x Hierüber haben sich tief im gesellschaftlichen Bewußtsein verankerte Codes herausgebildet, die auch wirken, wo offener Rassismus nicht das Ziel ist. Sogar im russischen Wiegenlied (mit Text von Michail Lermontov) ist vom bösen Tschetschenen die Rede, der nachts am Flußufer herumschleicht und sein Messer wetzt.xi
 
Nationaldichter Alexander Puschkin, dessen eigener Umgang mit dem Nordkaukasus zwar multisemantisch war, aber eben auch das Bild des von Natur aus gewalttätigen Bergbewohners beinhaltete, beschrieb in ikonisch gewordenen Zeilen das Wesen des Nordkaukasiers soxii:

Es gibt kaum eine Möglichkeit, sie zu befrieden, es sei denn, man entwaffnete sie, wie man die Krimtataren entwaffnet hat, was überaus schwierig durchzuführen ist in Folge der unter ihnen herrschenden Erbstreitigkeiten und der Blutrache. Dolch und Säbel sind Teile ihres Körpers, und der Säugling beginnt sie zu beherrschen, noch ehe er sein erstes Wort stammelt. Mord ist bei ihnen - nur eine Körperbewegung.

Der Topos vom wilden, impulsiven, ungezügelten Kaukasier diente russischen Intellektuellen, Militärs und Verwaltunsbeamten der Rechtfertigung eines kolonialen Projektes. Der Zustand von Willkür, in dem sich die lokalen Gesellschaften angeblich befanden, verlangten nach der ordnenden und zivilisierenden Hand der Kolonialverwaltung und einer allmählichen Erziehung hin zu mehr Selbstkontrolle und einer Wandlung “problematischer” Mentalitäten. Zum russischen Kolonialmythos dazu gehörte die Vorstellung, daß die Expansion in den Kaukasus nicht von Gier oder territorialen Gelüsten getrieben sei, sondern vom Vorhaben, der örtlichen Bevölkerung Recht und Gesetz zu bringen, damit ein “ziviles”, friedliches Leben überhaupt erst möglich zu machen. “Wildheit” und Affektgesteuertheit/Abwesenheit ausreichender Selbstkontrolle wurde dabei u.a. auch mit krimineller Veranlagung gleichgesetzt und die russische Kolonialgesellschaft erfreute sich an sensationalistischen Geschichten über Mord, Raub, Eifersuchtsdramen und Gewalt in der Familie, die als Ausdruck eines nordkaukasischen Volkscharakters gelesen wurden. xiii

Laut Harsha Ram, einem amerikanischen Russisten und Literaturwissenschaftler, bestand der russische „Tschetschenen“-Mythos im Kern sogar in der Reflexion über „Recht“ und dessen Verhältnis zu „Gewalt“. Typisch für den russischen Kolonialdiskurs sei vor allem das Vermischen von lokalen, kodifizierten Formen der individuellen und kollektiven Konfliktaustragung mit der nordkaukasischen Reaktion auf die russische Expansion gewesen. Der Topos vom gewaltaffinen Nordkaukasier diente so nicht nur zur Rechtfertigung der kolonialen Expansion sondern umgekehrt auch der Diskreditierung des nordkaukasischen Widerstandes gegen die russische koloniale Expansion. In der Sicht Lermontovs etwa stellte dieser Widerstand keine legitime politische Kraft dar, sondern wurde als chaotische, raubtierhafte Gewalt beschrieben, die auf einer elementaren Racheinstinkt anstatt auf einem entwickelten Gerechtigkeitssinn basisere. xiv



[Wird bis zum 8.2.2016 vervollständigt. Ich bin leider aufgrund meines Gesundheitszustandes gezwungen, ständige Pausen bei der Bildschirmarbeit einzulegen. Vorab eingestellt worden sind die obigen Textabschnitte, da es sich bei ihnen um den Kernbereich meiner Kritik handelt und ich hier bereits auf deren wissenschaftliche Belegbarkeit und Belegtheit und den entsprechenden Forschungsstand hinweisen wollte. Es wird mir ja unter Profitieren von meiner gesundheitlichen Situation gerne von Gegnern mit unterschiedlicher Motivation untestellt, ich hätte nichts weiter vorzubringen als das, was ich bereits vorgebracht bzw. veröffentlicht habe].



Zusatzdokumentation: Eine großartige Geste

Eine Intervention meinerseits per Leserkommentar hatte die TAZ nicht zugelassen. Hier noch mal der Text meines offenbar "infamen" Kurzkommentars (eine wirkliche wissenschaftliche Auseinandersetzung ist ohnehin über die Kommentarfunktion nicht möglich) zum Nachlesen:

"Ethnologen werden sich beim Lesen die Fußnägel kringeln. Was denkt sich die Dame überhaupt dabei, sich zu einem Wissensgebiet zu äußern, auf dem sie offenbar nicht im Geringsten kompetent ist? Etliche der Behauptungen sind kruder Unfug und noch dazu rassistisch bzw. in höchstem Maße ethnozentrisch. Aber typisch für deutsche Zeitungen, daß man das Ausbreiten von liebgewonnenen Stereotypen und Märchen darüber, wie der Fremde sei, denke und fühle, einem fakten- und wissensbasierten Argumentieren vorzieht. Das Klischee lebe hoch."




Ja, ich gebe zu, ich hätte meine Kritik wahrscheinlich sehr viel mehr noch an die Taz-Redaktion selbst richten müssen als an Frau Leuzinger-Bohleber , war aber zunächst ziemlich verärgert und auch schockiert über das, was ich da über mein - von der Taz ansonsten sträflich vernachlässigtes - Fachgebiet lesen mußte. Anders als das sonst mitunter gehandhabt wird, findet sich numehr in der Kommentarspalte nicht einmal mehr ein Hinweis darauf, daß hier von der Online-Redaktion gelöscht wurde. Sogar über mein TAZ-Profil ist der Kommentar nicht mehr abrufbar (siehe: https://www.taz.de/!ku450/).


Literatur:
x Thomas Barrett, The Remaking of the Lion of Dagestan: Shamil in Captivity, Russian Review,
Vol. 53, Nr. 3 (Juli 1994), S. 353-366, S. 360, online abrufbar unter: https://sites.evergreen.edu/russiawinter/wp-content/uploads/sites/47/2015/01/Jan-27-Shamil-in-Captivity.pdf
xiiDeutsche Übersetzung zitiert nach: Katharina Kickinger, Der „wilde Kaukasus“ in europäischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, Diplomarbeit, Wien 2013, S. 96, online unter: http://othes.univie.ac.at/27130/1/2013-01-31_0647760.pdf
xiiiAustin Jersild, Orientalism and Emire. North Caucasus Mountain Peoples and the Georgian Frontier, 1845-1917, Montreal 2002, S. 69, S. 89-105
xiv Harsha Ram, Prisoners of the Caucasus: Literary Myths and Media Representations of the Chechen Conflict. Berkeley, 1999, S. 4-5, online at: http://escholarship.org/uc/item/45t9r2f1