Am
7.2.2015 ist in der TAZ ein Interview unter dem Titel: „Psychologin
über Blutrache. „Eine grandios-narzisstische
Geste“. - Womit wird die
Selbstjustiz gerechtfertigt? Die Direktorin des
Sigmund-Freud-Instituts über Gerechtigkeit und kollektive
Kränkungen” erschienen, das mir durch
Tendentiosität und Unprofessionalität in mehrerlei Hinsicht
aufgefallen war. Interviewt wird Marianne Leuzinger-Bohleber,
Direktorin des in Frankfurt/Main beheimateten Sigmund
Freud-Instituts, Interviewer ist ein noch sehr junger Redakteur, der
bislang vor allem zu popkulturellen Themen geschrieben hatte,
keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet des Wissenschaftsjournalismus
vorzuweisen hatte und offenkundig fachlich um einiges überfordert
gewesen war. Die TAZ-Redaktion hat sich offenbar nicht bemüßigt
gesehen, auf meine kurzgehaltenen Hinweise auf die Problematik des
Interviews mit Marianne Leuzinger-Bohleber einzugehen. Da die
Redaktion ohnehin bereits über einen längeren Zeitpunkt hinweg mir
gegenüber einen bemerkenswerten Mangel an Sinn für gute
Umgangsformen bewiesen hatte, wähle ich nun den formellen Weg
jenseits der Befugnisse der TAZ. Der hier folgende Text dient der
Benennung meiner Kritik im Detail und ihrer sachgerechten Begründung.
Tschetschenien, Hort der
Terrorismusversteher
Ich beginne
mit einer Analyse derjenigen im Interview getroffenen Aussagen, die
mein eigenes wissenschaftliches Arbeitsgebiet
(ethnologisch-historische Beschäftigung mit der russischen
Unterwerfung des Nordkaukasus und den zugehörigen Kolonialdiskursen)
am unmittelbarsten betreffen. Leuzinger-Bohleber tätigt im Interview
Aussagen zu Tschetschenien und Tschetschenen als ethnischem
Kollektiv, die eine hohe Suggestionskraft besitzen, geeignet sind,
ohnehin in der westeuropäischen Bevölkerung vorhandene, massive
Feindbilder „wissenschaftlich“ zu bestätigen und
weiterzutradieren und darum so nicht stehenbleiben dürfen. In der
fraglichen Passage beantwortet Leuzinger-Bohleber die Frage nach
„kollektivpsychologische[n] Ursachen“ dafür, daß die
Charlie-Hebdo-Attentate „nicht überall auf Unverständnis“
gestoßen wären, sondern in manchen Teilen der Welt „als
verhältnismäßig wahrgenommen“ worden seien. Ich zitiere sie hier
im Ganzen:
„Ja,
so gab es zum Beispiel in Tschetschenien Demonstrationen gegen
Charlie Hebdo,
in denen muslimische Gläubige die Karikaturisten beschuldigten, den
Propheten und damit gläubige Muslims beleidigt zu haben. Dadurch
trügen sie eine Mitschuld an ihrer Ermordung. Bei diesen
Demonstranten spielen vermutlich die kollektiven Kränkungen durch
die „Kriege des sogenannten Westens“ gegen Irak oder
islamistische Terrorgruppen wie die IS durchaus eine Rolle.“
Frau Leuzinger-Bohleber
leistet hier unzulässige kulturalistische
Verkürzungen, die die politisch äußerst
repressive Situation in Tschetschenien vollkommen ausklammern.
Es wäre bereits den damaligen, problemlos
erhältlichen westlichen Presseberichten zu entnehmen gewesen,
daß die tschetschenischen Proteste gegen Charlie Hebdo von Kadyrow
angeleiert und forciert worden waren und auch er
selbst die zentrale Rede hielt, in der die "Beleidigung
der religiösen Gefühle" durch Charlie Hebdo verurteilt
wurde. Demonstranten berichteten, daß sie zur Teilnahme
gezwungen worden waren.i
Mit Druck und Drohungen inszenierte, nur scheinbar
spontane “Massenproteste“ sind
für das Tschetschenien des von Putin
unterstützten, autoritär regierenden Ramzan Kadyrow ohnehin nichts
Unübliches.ii
Auch dürften diese Proteste kaum ohne Billigung
Moskaus erfolgt sein, die Demonstrationen in Tschetschenien
lagen auf Kreml-Linie zumindest
insofern, als die
staatliche Informationsaufsichtsbehörde Roskomnadzor gewarnt hatte,
daß die Weiterveröffentlichung von Charlie Hebdo-Cartoons in
Rußland als Straftatbestand gewertet werden könne.iii
Die offizielle russische Reaktion auf Charlie Hebdo
kann als ambivalent gewertet werden.iv
In Richtung auf seine westlichen Gesprächspartner
hin drückte der russische Präsident Bedauern aus. Das
russische Boulevardblatt "Komsomolskaya Pravda" etwa
wartete hingegen mit antiamerikanischen
Verschwörungstheorien auf und erklärte ausführlich, aus
welchen Gründen man sich gerade nicht
mit Charlie Hebdo identifiziere.v
Von Seiten eines Sprechers der
Orthodoxen Kirche wurden – in einer Parallele
zur Roskomnadzor-Verordnung – "religiöse Gefühle"
explizit dem Recht auf freie
Meinungsäußerung vorgeordnet.vi
Den tschetschenischen Protesten gegen
Charlie Hebdo schlossen sich auch russische orthodoxe Prälaten an,
wohingegen zwei Demonstranten mit "Je suis Charlie"-Plakaten
in Moskau festgenommen wurden. Eine Gruppe radikaler
russisch-orthodoxer Aktivisten, die für
ihren öffentliche Aktionen gegen "Blasphemie" bekannt ist,
sah in dem Anschlag auf Charlie Hebdo sogar eine gerechte Strafe
Gottes.vii
Von einer "archaischen" Gemütsverfassung
des russischen Volkes, der orthodoxen Gläubigen oder gar der
Tradition des russischen "Duells"
als Form der außergerichtlichen
Konfliktbearbeitung mit oftmals tödlichem Ausgangviii
spricht Frau Leuzinger-Bohleber hier jedoch
nicht, "Rachegefühle" als Movens kollektiven Handelns
bleiben dem nichteuropäischen „Anderen“
vorbehalten, werden für den postsowjetischen Raum allein auf
tschetschenische Muslime und deren nicht näher erläuterte
Demütigungserfahrungen projiziert. Umgekehrt
findet die Tatsache, daß Tschetschenen sich explizit gegen
terroristische Vorgehensweisen ausgesprochen hatten, keinerlei
Erwähnung. Akhmed Zakayev, Kopf der offiziell nicht
anerkannten tschetschenischen Exilregierung “Itsckeria“,
hatte sofort nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo eine
Solidaritätsbotschaft an den französischen Präsidenten, an die
Redaktion Charlie Hebdo und allgemein an "die Bürger
Frankreichs" versandt, den Angriff auf die Satirezeitschrift
scharf verurteilt und betont, daß gerade auch die Tschetschenen
wüßten, was es heißt, wenn Journalisten
und Menschenrechtler aufgrund deren Einsatzes für Menschenrechte und
Demokratie umgebracht werden.ix
Wie seltsam mutet es angesichts dessen an, wenn
jemand, der über mögliche „Demütigungserfahrungen“ spekuliert,
überhaupt nicht darüber reflektiert, daß solche gerade auch im
Verwehren von – sehnlich erwünschten – demokratischen Strukturen
gegeben sein könnten.
Kurzum: Im entsprechenden
Interviewabschnitt wird das mittlerweile international gängige
Stereotyp vom ungehobelten, ungezügelten, gewaltaffinen
Tschetschenen bedient. „Hard facts“ aus dem aktuellen
Nachrichtengeschehen, die hier zumindest partiell korrigierend
gewirkt hätten, werden ausgelassen oder verzerrend wiedergegeben.
Der Redakteur läßt dies ohne kritische Nachfragen und Korrekturen
einfach so stehen. Karikatur, wie sie im Interesse des Kreml
Verbreitung findet.
Kolonialrassistische Stereotypen und
ihre Verwendung in genozidalen Diskursen
Der „wilde
Nordkaukasier“ ist keineswegs ein Produkt der beiden
Tschetschenienkriege der 1990er oder einer nachträglichen
Stereotypisierung einer international auffälligen, ethnisch
konnotierten Tätergruppe, die entsprechenden Topoi gehen auf die
blutige zaristische Kolonialisierung des Kaukasus im 19. Jahrhundert
zurück, haben diese begleitet und begründet/legitimiert. Es
existiert in hinreichendem Maße bereits (öffentlich zugängliche!)
Fachliteratur zu diesem Thema, die ich hier – zusammen mit meinen
eigenen Forschungen – in Ausschnitten bzw. wesentlichen Punkten
vorstellen werde. Die Auseinandersetzung mit dem (Nord-)Kaukasus hat
Rußland gerade im kulturellen Bereich in einem Maße geprägt, wie
dies keine andere Region in der gesamten russische Kolonialgeschichte
vermochte.x
Hierüber haben sich tief im gesellschaftlichen Bewußtsein
verankerte Codes herausgebildet, die auch wirken, wo offener
Rassismus nicht das Ziel ist. Sogar im russischen Wiegenlied (mit
Text von Michail Lermontov) ist vom bösen Tschetschenen die Rede,
der nachts am Flußufer herumschleicht und sein Messer wetzt.xi
Nationaldichter
Alexander Puschkin, dessen eigener Umgang mit dem Nordkaukasus zwar
multisemantisch war, aber eben auch das Bild des von Natur aus
gewalttätigen Bergbewohners beinhaltete, beschrieb in ikonisch
gewordenen Zeilen das Wesen des Nordkaukasiers soxii:
„Es
gibt kaum eine Möglichkeit, sie zu befrieden, es sei denn, man
entwaffnete sie, wie man die Krimtataren entwaffnet hat, was überaus
schwierig durchzuführen ist in Folge der unter ihnen herrschenden
Erbstreitigkeiten und der Blutrache. Dolch und Säbel sind Teile
ihres Körpers, und der Säugling beginnt sie zu beherrschen, noch
ehe er sein erstes Wort stammelt. Mord ist bei ihnen - nur eine
Körperbewegung.”
Der Topos
vom wilden, impulsiven, ungezügelten Kaukasier diente russischen
Intellektuellen, Militärs und Verwaltunsbeamten der Rechtfertigung
eines kolonialen Projektes. Der Zustand von Willkür, in dem sich die
lokalen Gesellschaften angeblich befanden, verlangten nach der
ordnenden und zivilisierenden Hand der Kolonialverwaltung und einer
allmählichen Erziehung hin zu mehr Selbstkontrolle und einer
Wandlung “problematischer” Mentalitäten. Zum russischen
Kolonialmythos dazu gehörte die Vorstellung, daß die Expansion in
den Kaukasus nicht von Gier oder territorialen Gelüsten getrieben
sei, sondern vom Vorhaben, der örtlichen Bevölkerung Recht und
Gesetz zu bringen, damit ein “ziviles”, friedliches Leben
überhaupt erst möglich zu machen. “Wildheit” und
Affektgesteuertheit/Abwesenheit ausreichender Selbstkontrolle wurde
dabei u.a. auch mit krimineller Veranlagung gleichgesetzt und die
russische Kolonialgesellschaft erfreute sich an sensationalistischen
Geschichten über Mord, Raub, Eifersuchtsdramen und Gewalt in der
Familie, die als Ausdruck eines nordkaukasischen Volkscharakters
gelesen wurden. xiii
Laut
Harsha Ram, einem amerikanischen Russisten und
Literaturwissenschaftler, bestand der russische
„Tschetschenen“-Mythos im Kern sogar in der Reflexion über
„Recht“ und dessen Verhältnis zu „Gewalt“. Typisch für den
russischen Kolonialdiskurs sei vor allem das Vermischen von lokalen,
kodifizierten Formen der individuellen und kollektiven
Konfliktaustragung mit der nordkaukasischen Reaktion auf die
russische Expansion gewesen. Der Topos vom
gewaltaffinen Nordkaukasier diente so nicht nur zur Rechtfertigung
der kolonialen Expansion sondern umgekehrt auch der Diskreditierung
des nordkaukasischen Widerstandes gegen die russische koloniale
Expansion. In der Sicht Lermontovs etwa stellte dieser Widerstand
keine legitime politische Kraft dar, sondern wurde als chaotische,
raubtierhafte Gewalt beschrieben, die auf einer elementaren
Racheinstinkt anstatt auf einem entwickelten Gerechtigkeitssinn
basisere. xiv
[Wird bis zum 8.2.2016 vervollständigt. Ich bin leider aufgrund meines Gesundheitszustandes gezwungen, ständige Pausen bei der Bildschirmarbeit einzulegen. Vorab eingestellt worden sind die obigen Textabschnitte, da es sich bei ihnen um den Kernbereich meiner Kritik handelt und ich hier bereits auf deren wissenschaftliche Belegbarkeit und Belegtheit und den entsprechenden Forschungsstand hinweisen wollte. Es wird mir ja unter Profitieren von meiner gesundheitlichen Situation gerne von Gegnern mit unterschiedlicher Motivation untestellt, ich hätte nichts weiter vorzubringen als das, was ich bereits vorgebracht bzw. veröffentlicht habe].
Zusatzdokumentation: Eine großartige Geste
Eine Intervention meinerseits per Leserkommentar hatte die TAZ nicht zugelassen. Hier noch mal der Text meines offenbar "infamen" Kurzkommentars (eine wirkliche wissenschaftliche Auseinandersetzung ist ohnehin über die Kommentarfunktion nicht möglich) zum Nachlesen:
"Ethnologen
werden sich beim Lesen die Fußnägel kringeln. Was denkt sich die Dame
überhaupt dabei, sich zu einem Wissensgebiet zu äußern, auf dem sie
offenbar nicht im Geringsten kompetent ist? Etliche der Behauptungen
sind kruder Unfug und noch dazu rassistisch bzw. in höchstem Maße
ethnozentrisch. Aber typisch für deutsche Zeitungen, daß man das
Ausbreiten von liebgewonnenen Stereotypen und Märchen darüber, wie der
Fremde sei, denke und fühle, einem fakten- und wissensbasierten
Argumentieren vorzieht. Das Klischee lebe hoch."
Ja, ich gebe zu, ich hätte meine Kritik wahrscheinlich sehr viel mehr noch an die Taz-Redaktion selbst richten müssen als an Frau Leuzinger-Bohleber , war aber zunächst ziemlich verärgert und auch schockiert über das, was ich da über mein - von der Taz ansonsten sträflich vernachlässigtes - Fachgebiet lesen mußte. Anders als das sonst mitunter gehandhabt wird, findet sich numehr
in der Kommentarspalte nicht einmal mehr ein Hinweis darauf, daß hier
von der Online-Redaktion gelöscht wurde. Sogar über mein TAZ-Profil ist
der Kommentar nicht mehr abrufbar (siehe: https://www.taz.de/!ku450/).
Literatur:
v
https://en.wikipedia.org/wiki/Charlie_Hebdo_shooting#Media;
http://www.thedailybeast.com/articles/2015/01/19/chechnya-vs-charlie-grozny-holds-biggest-protest-ever-to-oppose-muhammed-cartoons.html;
http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/russia/11340360/Did-the-Americans-plan-the-Paris-terror-attacks-asks-leading-Russian-tabloid.html;
http://www.kp.ru/daily/26328.2/3210562/
vii
https://news.vice.com/article/russias-reaction-to-the-charlie-hebdo-attacks-and-what-it-says-about-putin;
http://russia-insider.com/en/2015/01/23/2669;
http://russia-insider.com/en/2015/01/23/2669;
http://www.themoscowtimes.com/news/article/tens-of-thousands-rally-against-immoral-charlie-hebdo-in-chechnya/514544.html;
http://www.themoscowtimes.com/news/article/radical-russian-orthodox-activist-to-lecture-on-whether-putin-will-become-god/506325.html;
http://www.themoscowtimes.com/news/article/russian-orthodox-activists-say-charlie-hebdo-shooting-was-just-punishment/514157.html
x
Thomas Barrett, The Remaking of the Lion of Dagestan: Shamil in
Captivity, Russian Review,
Vol. 53, Nr. 3 (Juli 1994), S.
353-366, S. 360, online abrufbar unter:
https://sites.evergreen.edu/russiawinter/wp-content/uploads/sites/47/2015/01/Jan-27-Shamil-in-Captivity.pdf
xiiDeutsche
Übersetzung zitiert nach: Katharina Kickinger, Der „wilde
Kaukasus“ in europäischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts,
Diplomarbeit, Wien 2013, S. 96, online unter:
http://othes.univie.ac.at/27130/1/2013-01-31_0647760.pdf
xiiiAustin
Jersild, Orientalism and Emire. North Caucasus Mountain Peoples and
the Georgian Frontier, 1845-1917, Montreal 2002, S. 69, S. 89-105
xiv
Harsha Ram, Prisoners of the Caucasus: Literary Myths and Media
Representations of the Chechen Conflict. Berkeley, 1999, S. 4-5,
online at: http://escholarship.org/uc/item/45t9r2f1