Am 6.2.2016 wurde von mir folgendes Schreiben an den Presserat versandt:
Istanbul, den 6.2.2016
Sehr geehrte Damen und
Herren,
Hiermit möchte ich
Beschwerde einreichen im Sinne des Pressekodex und bitte Sie, die
notwendigen Überprüfungen vorzunehmen.
Beanstandete
Veröffentlichung
Titel:
Psychologin über Blutrache. „Eine grandios-narzisstische
Geste“. Womit wird die Selbstjustiz gerechtfertigt? Die Direktorin
des Sigmund-Freud-Instituts über Gerechtigkeit und kollektive
Kränkungen.
Genre: Interview
Verantwortlicher
Journalist/Interviewführung: Johannes Pitsch
Interviewte: Prof.
Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber (Sigmund-Freud-Institut in
Frankfurt/Main)
Datum: 7.2.2015
(ohne Uhrzeitangabe)
Erscheinungsort:
die tageszeitung (TAZ), online unter: http://www.taz.de/!5021542/
Grund der Beanstandung
Diskriminierung von
Minderheiten/volksverhetzende Wirkung
Begründung:
Das
Interview verfolgt offenkundig das Ziel, die Charlie Hebdo-Attentate
in einen weiteren soziopolitischen Rahmen einzuordnen und im
Rückgriff auf wissenschaftliche Theorien der Öffentlichkeit in
ihren Ursachen verständlicher zu machen – und damit auch indirekt
Anregungen für künftige Präventionsarbeit zu geben. Durch die Taz
selbst (Überschrift, Unterzeile, Fragestellungen, Bildunterschrift)
wird hierbei von Anfang an das Phänomen des internationalen
Terrorismus, das sich gegen staatlich organisierte Gesellschaften
richtet, primär als Kommunikationsstrategie zu verstehen ist und
weitgehend ein Phänomen der Moderne bzw. Postmoderne darstellt, mit
der Institution der Blutrache vermischt und diese dann wiederum mit
individualpsychologischen Zuständen und gruppenpsychologischen
Phänomenen (im Text: „Wut“, „Rache“, „Kränkungen“) in
Verbindung gebracht.
„Blutrache“
ist üblicherweise ein Forschungsgebiet für Ethnologen oder
historisch arbeitende Kulturwissenschaftler, es handelt sich bei ihr
um einen Mechanismus zur Konfliktaustragung und -beilegung, wie er
für segmentäre bzw. staatsferne Gesellschaften typisch ist. Sie
folgt einem mündlich überlieferten, teils auch schriftlich
fixiertem Kodex, dient der Herstellung bzw. Aufrechterhaltung
gesellschaftlicher Normen und Ordnungen unter Bedingungen der
Abwesenheit eines zentralstaatlichen Gewaltenmonopols und hebt sich
damit von außergesetzlichen Willkürakten („Selbstjustiz), die
gegen eine bestehende gesellschaftliche oder staatliche Ordnung
gerichtet sind, ab. Die Blutrache ist Bestandteil eines
Rechtssystems, auch wenn dieses westlichen Gesellschaften -
mittlerweile - fremd erscheinen mag und die Blutrache selbst modernen
rechtsstaatlichen Prinzipien zuwiderläuft. Demzufolge kann man sehr
wohl – jenseits kulturrelativistischer Befindlichkeiten - die
Sinnhaftigkeit der entsprechenden Normen und Regeln hinterfragen oder
sogar deren Abschaffung fordern, sollte man aber konzeptual zwischen
„Terrorismus“ als politischem Phänomen, „Blutrache“ als
innerhalb bestimmter Gesellschaftsformen vertretener soziopolitischer
Institution und individual- oder gruppenpsychologisch motivierten
Straf- und Gewalttaten trennen.
Eine
Ineinssetzung bzw. Inbezugsetzung , wie sie in der TAZ de
facto vorgenommen wird, knüpft an
veraltete, wissenschaftlich diskreditierte Lehren aus dem 19./
beginnenden 20. Jahrhundert an, insbesondere an die Völkerpsychologie
in ihrer Verbindung mit Kulturevolutionismus. Im Kern beinhalteten
diese Lehren die Vorstellung einer Stufenabfolge menschlicher
Zivilisation und das Postulat, daß andere (außereuropäische)
Völker auf früheren Evolutionsstufen ständen. Man glaubte, daß
die Völker, mit denen man im Zuge der Kolonialisierung in Kontakt
gekommen war, in Bezug auf westeuropäische Gesellschaften sozusagen
„lebendige“ Vergangenheit seien und sich im Vergleich mit den
moderneren ,fortgeschritteneren Europäern durch eine mangelnde
geistige/intellektuelle und emotionale Reife auszeichnen würden und
etwa auch – in einer Parallele zur kindlichen Entwicklung – durch
mangelnde Affektkontrolle auffielen. Institutionen wie „Blutrache“
in diesem Sinne als „kulturelle Regression in archaische Zeiten“
(Leuzinger-Bohleber) darzustellen, wie dies in der fraglichen
TAZ-Veröffentlichung geschieht, gilt in der heutigen Ethnologie
nicht mehr als angemessen. Des weiteren werden die von Redaktion und
der Interviewten vorgenommenen Verknüpfungen auch nicht näher
explifiziert bzw. mit Bezugnahme auf konkrete Sachzusammenhänge
hinreichend begründet.
Vor
diesem theoretischen Hintergrund oder Setting, das, soweit
ersichtlich, von der TAZ selbst so gewählt wurde, werden im Verlauf
des Interviews ethnisch und religiös definierte Kollektive in die
Nähe von Straftaten bzw. terroristische Akte oder deren Gutheißung
gerückt. Ich beziehe mich im folgenden konkret auf die Aussagen, die
auf „Tschetschenien“ und „muslimische Gläubige“ in
Tschetschenien bezogen sind, da hier mein eigenes Arbeitsgebiet und
meine Fachkompetenzen am stärksten berührt sind. Die entsprechende
Passage wird eingeleitet durch die explizite Frage des
TAZ-Journalisten nach „Kränkungen“ und
„kollektivpsychologische[n] Ursachen“ für die Tatsache, daß
andernorts (in der TAZ-Veröffentlichung geographisch und religiös
konnotiert, wie etwa die Formulierung „in der muslimischen Welt“
und die Bildunterschrift „In Afghanistan zeigt sich die Wut
von Demonstranten gegen „Charlie Hebdo“” belegen)
die Anschläge auf Charlie Hebdo „als verhältnismäßig
wahrgenommen“ worden seien. Ich zitiere:
Johannes
Pitsch:
„Die
Attentate stießen nicht überall auf Unverständnis, sondern wurden
als verhältnismäßig wahrgenommen. Könnten die Kriege des
sogenannten Westens in der muslimischen Welt und die Dämonisierung
des Islams kollektivpsychologische Ursachen dafür sein?“
Marianne Leuzinger-Bohleber:
Ja, so gab es zum Beispiel in
Tschetschenien Demonstrationen gegen Charlie Hebdo,
in denen muslimische Gläubige die Karikaturisten beschuldigten, den
Propheten und damit gläubige Muslims beleidigt zu haben. Dadurch
trügen sie eine Mitschuld an ihrer Ermordung. Bei diesen
Demonstranten spielen vermutlich die kollektiven Kränkungen durch
die „Kriege des sogenannten Westens“ gegen Irak oder
islamistische Terrorgruppen wie die IS durchaus eine Rolle.“
Auf einer
faktischen, pragmatischen Ebene ist diese Darstellung verzerrend, da
sie die Repressivität des Kadyrow-Regimes und damit die
„Freiwilligkeit“ derartiger Demonstrationen ignoriert und dadurch
– weitgehend im Sinne Putins – eine scheinbare Mehrheit an
Tschetschenen zu „Terrorismusverstehern“ macht. Angesichts der
Tatsache, daß die tschetschenische Exilregierung über ihren
Vertreter Akhmed Zakayev die Attentate umgehend als „brutal“ und
„inhuman“ verurteilt hatte und überdies noch betonte, daß
Tschetschenen sehr gut nachvollziehen könnten, was es heiße, wenn
im Zuge eines Streben nach Freiheit und Demokratie Journalisten und
Menschenrechtler Gewalttaten zum Opfer fielen, mutet die Herstellung
eines Zusammenhangs zu einer „tiefe[n] Enttäuschung an westlichen
Werten“ (Leuzinger-Bohleber) hier geradezu grotesk an. Damit werden
politische Zusammenhänge entstellt wiedergegeben, bis hin zu ihrer
Verkehrung ins genaue Gegenteil.
Auf einer
theoretisch-analytischen Ebene fällt auf, daß die Darstellung
Leuzinger-Bohlebers an kolonialrassistische Stereotypen des 19.
Jahrhunderts anschließt, insbesondere an die des „rachsüchtigen
Tschetschenen“. Der Topos des gewaltaffinen, kriminellen und
unbeherrschten Nordkaukasiers reicht zurück in die Zeit der
Eroberung des Kaukasus durch das Zarenreich. In deren Zuge haben sich
tiefsitzende kulturelle Codes herausgebildet, die auch dann aktiviert
werden, wenn sich der Verwender deren Implikationen nicht oder nicht
voll bewußt ist. Das Bild des unbeherrschten und unbeherrschbaren,
rachsüchtigen, impulsiven Nordkaukasiers hatte u.a. die Funktion,
die ordnungsstiftende und zivilisierende Rolle der russischen
Militärverwaltung hervorzuheben und damit die russische Eroberung zu
legitimieren. In seiner Extremform bildete es Teil genozialer
Diskurse, diente der Vorbereitung, Durchführung und nachträglichen
Rechtfertigung einer Politik der Massaker, der Hungerblockade, der
Vertreibungen und der (zumindest kulturellen) Exterminierung.
Heutigen Nordkaukasiern sind diese diskursiven Zusammenhänge
durchaus noch präsent.
In
Anbetracht dieser Tatsachen möchte ich Sie bitten, zu überprüfen,
inwiefern hier, d.h. insbesondere mit dem Rekurs auf
kolonialrassistische Stereotypen, Ziffer 1 („Wahrhaftigkeit und
Achtung der Menschenwürde“), Ziffer 10 („Religion,
Weltanschauung, Sitte“) und Ziffer 12 („Berichterstattung über
Straftaten“) des deutschen Pressekodexes verletzt wurden. Meines
Erachtens wird im vorliegenden Interview mittels verzerrender
Fragestellungen und Deutungsweisen ein - sachlich nicht gegebener
Zusammenhang - zwischen tschetschenischer „Mentalität“ (so
möchte ich Leuzinger-Bohlebers Ausführungen hier einmal sinngemäß
zusammenfassen) und einem terroristischen Verbrechen hergestellt bzw.
ein solcher zumindest dem Leser gegenüber insinuiert. Mit dem
vorliegenden Interview wird ethnische und religiöse
Stereotypenbildung befördert und werden bereits vorhandene
Vorurteile gegenüber den erwähnten Gruppen geschürt und
„wissenschaftlich“ bestätigt. Die Veröffentlichung ist damit,
gerade zu Zeiten von Bewegungen wie Pegida, geeignet, ein friedliches
Zusammenleben innerhalb Deutschlands zu gefährden und dort
volksverhetzende Wirkung zu entfalten. Ich sehe die Aufgabe von
Medien gerade auch in der Aufklärung über derartige Sterotypen und
Klischees und deren ideengeschichtliche Herkunft wie auch deren
aktuelle politische Nutzbarmachung (Instrumentalisierung) und bin der
Ansicht, daß hier das vorliegende Interview einen gegenteiligen
Effekt hat.
Mir
ist bewußt, daß Interviews oftmals die Funktion haben, die
„Meinungen“ und Positionen bestimmter Personen abzubilden,
unabhängig davon, ob diese Meinungen und Positionen nun faktisch
korrekt bzw. nachvollziehbar oder ethisch teilbar sind, sowie daß
hier dann entsprechend das Gebot der Meinungsfreiheit greift.
Allerdings handelt es sich meiner Auffassung nach im vorliegenden
Fall weniger um ein personenbezogenes, denn um ein sachzentriertes
Interview. Das Interview hat die Gestalt
einer Kommentierung bzw. Analyse des Zeitgeschehens aus Expertensicht
und konzentriert sich gerade nicht darauf, eine bestimmte
Wissenschaftlerin und die von ihr betriebene Forschung vorzustellen.
Berücksichtigt werden sollte auch, daß Aussagen von Akademikern in
einer modernen Informationsgesellschaft für gewöhnlich ein
besonders hohes Maß an Autorität und Legitimität besitzen, einem
allgemeinen Publikum „Wahrhaftigkeit“ signalisieren und daß
ihnen hiermit in besonderem Maße eine meinungsbildende Wirkung
zukommt.
Meiner
Auffassung nach hat die TAZ auch selbst in erheblichem Maße ihre
eigene Sorgfaltspflicht (Ziffer 2, Pressekodex) verletzt. Daß in der
Interviewführung bedeutsame Fehler gemacht wurden, wurde hier
bereits in der Form angesprochen, daß der Interviewer mit seinen
Fragen und Stichworten bereits selbst einen einen fragwürdigen
Rahmen absteckt. Frau Leuzinger-Bohleber hat sich bedauerlicherweise
an etlichen Stellen (nicht überall) hierauf eingelassen. Hiermit in
Zusammenhang stehend ist zu beobachten, daß die im Interview
berührten Themengebiete zu einem beträchtlichen Teil nicht mit den
Fachkompetenzen bzw. dem akademischen Profil der Interviewten
übereinstimmen, die konkrete Themenstellung für eine Psychologin
eher ungeeignet und unvorteilhaft war. Zu bemängeln ist
insbesondere, daß die TAZ weder durch Nachfragen während des
Interviews noch durch eine nachträglich hinzugefügte Begleitnotiz
kenntlich gemacht hat, wo sich Frau Leuzinger-Bohleber als Direktorin
des Sigmund-Freud-Instituts äußert und wo sie lediglich ihrer
persönlichen, auf Laienurteilen basierenden Meinung Ausdruck
verleiht (wie eben in oben zitierter Passage zu Tschetschenien). Für
den Laienleser dürfte damit kaum nachvollziehbar sein, welche der im
Interview getroffenen Aussagen denn auch tatsächlich
wissenschaftlich untermauert sind. Auch sollte
Wissenschaftsjournalismus, und hierum handelt es sich strenggenommen,
auf wissenschaftliche Standards Rücksicht zu nehmen und veraltete
Theorien nicht einem allgemeinen Publikum als aktuellen Kenntnisstand
anbieten.
Auf
die Mängel des Interviews aus fachlicher Sicht war die TAZ von mir
bereits in Kurzform, u.a. per email, bereits hingewiesen worden, hat
hierauf aber nicht reagiert bzw. sogar entsprechende Leserkommentare
meinerseits einfach gelöscht, so daß zusätzlich fraglich ist, ob
die TAZ hier nicht ihre Pflicht zur Richtigstellungverletzt hat
(Ziffer 3 „Richtigstellung“ , evtl. zusätzlich Ziffer 2.6
„Leserbriefe“, Ziffer 2.7 „Nutzerbeiträge“ des
Pressekodexes). Diese Nichtkorrektur dürfte auch praktische Relevanz
haben insofern, als Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber u.a. in der
Traumaarbeit mit Flüchtlingen tätig ist. Sie und andere sollten auf
die – zugegebenerweise bei uns noch wenig bekannten –
entsprechenden Klischees und Stereotypen sowie deren
kolonialgeschichtliche Herleitung hingewiesen werden. Ansonsten
besteht Gefahr, daß Flüchtlinge aus der Rußländischen Föderation
und Syrien (dort existierte bislang eine nordkaukasische Diaspora) in
deutschen Hilfseinrichtungen bzw. von Psychologenseite mit genau
denjenigen Stereotypen und rassistischen Klischees konfrontiert
werden, die in ihrer Heimat nicht nur weitverbreitet sind und dort
für ein feindseliges Klima sorgen, sondern unter Umständen sogar
als Rechtfertigung für Repression, Verfolgung und Folter gedient
haben.
Da die von
mir hier angesprochenen Sachverhalte und Zusammenhänge bzw. die
Themengebiete, die von meinen Ausführungen berührt werden, einer
allgemeinen Öffentlichkeit eher unbekannt sein dürften, habe ich
mir erlaubt, als Ergänzung zum gegenwärtigen Schreiben meine
Kritikpunkte an der fraglichen Publikation noch einmal gesondert in
einem Blogtext (abrufbar unter:
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com.tr/2016/02/der-rachsuchtige-tschetschene-wie-die_6.html)
zu benennen. Bitte beachten Sie, daß Sie dort auch die
entsprechenden Belege und Verweise auf die Fachliteratur finden.
Ich verbleibe mit
freundlichen Grüßen,
Irma Kreiten,
Historikerin und Ethnologin (M.A.)