Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Dienstag, 26. November 2013

Die Sotschi-München-Connection: Ein nachträglicher Kommentar zu Nicole Gohlke



Am 16.10.2013 hatte ich Nicole Gohlke in einem offenen Brief an die vor den Wahlen zugesagte Unterstützung erinnert und dabei auch geschildert, welche Probleme für mich aktuell zu bewältigen wären, um meine Arbeit als Wissenschaftlerin fortführen zu können. Auf eine vorherige email vom 27.9.2013 hatte ich keine Antwort erhalten. In ihrer Antwort vom 28.10.2013 teilt mir Nicole Gohlke mit, daß es ihr und ihren MitarbeiterInnen im Berliner Büro nicht möglich wäre, „sich fundiert in Ihr wissenschaftliches Themengebiet und Ihre Forschung zu den Tscherkessen einzuarbeiten“.Da ihre Kenntnisse auf diesem Fachgebiet nicht ausreichten, schrecke sie davor zurück, sich „direkt in die Auseinandersetzung einzumischen“.

Mich hat dieses Schreiben nicht nur persönlich enttäuscht, da es sang- und klanglos die vorherige Zusage politischer Untersützung rückgäng macht. Unsensibel ist der Brief auch gegenüber der tscherkessischen Diaspora, da hier keinerlei politisches Interesse an deren höchst aktuellen Problemen zum Ausdruck kommt. Erschreckt hat mich aber auch die wissenschaftspolitische Haltung, die in diesem Schreiben zum Ausdruck kommt. Es suggeriert, die Statthaftigkeit politisch heikler Forschungsthemen und die Gewährleistung der dafür notwendigen demokratischen Rahmenbedingungen könne davon abhängig gemacht werden, inwieweit (wissenschafts-)politische Entscheidungsträger selbst mit der Thematik vertraut seien und diese inhaltlich nachvollziehen könnten. Man stelle sich vor, in Deutschland würde in der Tat nur noch solche Forschung stattfinden, die mit dem individuellen Wissensstand der 631 Abgeordneten im Bundestag korrespondiert - der Wissenschaftsstandort Deutschland wäre schnell erledigt. Mir war es ganz im Gegenteil gerade darum gegangen, daß Wissenschaft und öffentliche Meinung sich ohne zensierende Eingriffe in freier Diskussion und nach ihren eigenen Regeln entfalten können. Ich hatte mir nicht eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern die Wiederherstellung der notwendigen formalen Rahmenbedingungen erhofft: bei meinem Forschungsthema ist in Deutschland bisher leider nicht einmal dieses rechtsstaatlich-demokratische Minimum gewährleistet.

Auf eine weitere Stellungnahme hatte ich zunächst verzichtet und es den Lesern überlassen, sich selbst im Abgleich mit meinem Anfragetext ein Bild zu machen. Zu meiner großen Überraschung habe ich jedoch zwischenzeitlich festgestellt, daß sich Nicole Gohlke sehr wohl, und zwar mit offenbar erheblichem Aufwand, gegen die Olympischen Winterspiele eingesetzt hat – allerdings gegen die in München und nicht die in Sotschi.  In einer eigenhändig verfaßten Pressemitteilung vom 12.11.2013 berichtet Gohlke in Siegeslaune, die (deutsche) NOlympia-Kampagne habe "ein starkes Zeichen gegen die Arroganz der abgehobenen politischen und wirtschaftlichen Klasse" gesetzt. Auf ihrer eigenen Webpräsenz zeigt sie sich, wie sie vor der Abstimmung zu München 2022 "bis zur letzten Minute mobilisiert und argumentiert". Aus genau diesem Grunde möchte ich nun doch noch ein paar weitere Informationen und Betrachtungen hinterherschieben.


nicole noly 5

Bildquelle: http://www.nicole-gohlke.de/index.php/politik/bewegung/550-erfolg-fuer-nolympia

Gerade eine derartige öffentlichkeitswirksame Kampagne wie die Münchener NOlympia-Bewegung hätte sich meines Erachtens idealerweise dafür angeboten, auch den Bogen zu Sotschi zu spannen. Ich finde es überaus schade, daß man hier die Gelegenheit, neben den schädlichen Auswirkungen Olympischer Winterspiele auf München und die Voralpenregion auch die ganz ähnlich gelagerten Probleme in Sotschi zu thematisieren und dabei auch auf die Tscherkessen zu verweisen, so ungenutzt verstreichen ließ. Die Perspektive, die sich hier gerade über die Person Nicole Gohlkes geboten hätte, wäre die eines gemeinsamen Vorgehens gegen ein kommerzorientiertes IOC gewesen, das an die Stelle der in der olympischen Charta verankerten friedlichen Völkerverständigung nunmehr rücksichtslosen Raubbau an Mensch und Natur setzt. Die vielgerühmte „internationale Solidarität“ und Weitsicht der europäischen Linken – wo ist sie hier?

Ich möchte Nicole Gohlke vor dem Hintergrund ihres eigenen Engagements gegen München 2022 ihre Meinungslosigkeit zum Problemkomplex Sotschi 2014 nun nicht länger abkaufen. Die ökologischen Probleme, die Großbauten in sensiblen voralpinen und alpinen Regionen hervorrufen, sind in beiden Fällen durchaus ähnlich und den NOlympia-Machern auch bekannt. Eine kurze, kritische Beschreibung von Sotschi 2014 findet sich sogar auf der offiziellen Webseite der NOlympia-Kampagne unter "Bisherige Erfahrungen mit Olympischen Winterspielen" - als Gegenargument gegen die Münchner Bewerbung! Der NOlympia-Text zu Sotschi beklagt, die "ortsansässige Bevölkerung" habe "durch steigenden (sic!) Immobilienpreise, Absiedlung und Vertreibung und durch Manipulationen bei der Bürgermeisterwahl, Repressalien bei Widerstand, diktatorische Verhältnisse etc. und dadurch bedingte Finanznot." zu leiden.

Ist sie selbst betroffen, zeigt sich die Münchener Linkspartei durchaus in der Lage, die Propagandamaschinerie der Olympia-Befürworter zu durchschauen - Nicohle Gohlke selbst schreibt von den "gleichermaßen inhaltsleeren wie effekthascherischen Parolen" der Olympia-Befürworter  und setzt diesen eine "Vielzahl wissenschaftlicher und journalistischer Expertisen" entgegen, die die "wahren Fakten" auf den Tisch gelegt hätten.  Wenn man hier so erfolgreich die Grenzen des offziellen Diskurses sprengen kann, warum dann nicht auch in Bezug auf Sotschi? Im NOLympia-Text zu Sotschi wird jedoch die putinsche Ausblendung der Tscherkessen und ihrer Geschichte kritiklos übernommen - sie finden nicht einmal namentliche Erwähnung. Die Macher der Webseite mögen schlicht uninformiert gewesen sein, Nicole Gohlke aber hätte es spätestens durch meine Hinweise auf die tscherkessischen Dimensionen von Sotschi 2014 besser wissen müssen.

Unter den gegebenen Umständen kann ich diese Darstellungsform kaum anders als ein Weitertragen von Kolonialapologetik und Geschichtsklitterung zu Lasten der Tscherkessen verstehen. Dabei wäre eine konkrete Stellungnahme zur Frage "Völkermord ja oder nein", vor der Nicole Gohlke hier offenbar zurückzuschreckt, meines Erachtens gar nicht erforderlich gewesen. Es hätte bereits ausgereicht, die Existenz der Tscherkessen überhaupt anzuerkennen, ihnen den Status legitimer Gesprächspartner zuzugestehen und damit eine öffentliche Debatte in Gang zu setzen. Warum möchte man sich die tscherkessischen Argumente gegen Sotschi 2014 nicht einmal anhören? Warum werden die "wahren Fakten" der Tscherkessen insgeheim in Zweifel gezogen, ohne ihnen auch nur eine Chance auf Evaluierung durch die deutsche Öffentlichkeit zu bieten? Grundsätzlich gilt, daß dort, wo unaufgearbeitete Kolonialverbrechen und damit verbundene Minderheitenproblematiken im Raum stehen, eine indifferente Ahnungslosigkeit nicht der Ausdruck einer diplomatisch-zurückhaltenden Haltung sondern der Weg zu Mittäterschaft ist. 

Für mich scheinen hier einige ethische Bewertungskriterien aus dem Lot geraten bzw. außer Kraft gesetzt zu sein. Zum einen gegenüber den Tscherkessen und ihren politischen und kulturellen Anliegen, die hier schlicht und einfach übergangen werden. Der Glaube, man könne sich bei tscherkessischen Themen eine Positions- und Meinungslosigkeit leisten, die in anderen, vergleichbaren Zusammenhängen ganz und gar inaktezpabel erschiene, ist letzendlich der Ausdruck dessen, was postkoloniale Theoretiker als "white privilege" beschreiben: das Privileg eines überheblichen, selbstfixierten Westens, der sich nicht um die Belange Anderer schert, nicht darum, wie diese Haltung auf andere wirkt und auch nicht darum, wie sich die eigenen Denk- und Verhaltensweisen auf eine vernetzte Welt auswirken. 
   
Zum anderen aber fehlt es hier auch an Haltung gegenüber der deutschen Wählerschaft. Unterstellt Nicole Gohlke dieser durch das Nicht-Aufgreifen der Tscherkessen-Thematik im Kontext der Olympischen Spiele nicht stillschweigend, ihr seien nur Themen vermittelbar, die in direktem Zusammenhang mit den eigenen, regional verankerten Interessen und unmittelbaren persönlichen Vorteilen stehen? Warum sollten Münchener, die sich für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit interessieren, nicht ebenfalls Interesse aufbringen für internationale Zusammenhänge und Fragen historischer Gerechtigkeit? Warum sollten sie nicht willens oder in der Lage sein, Verbindungen zwischen einem unaufgearbeiteten kolonialen Völkermord und späteren Instanzen genozidaler Gewalt und dem aktuellen militarisitschen Umbau unserer Gesellschaft zu ziehen? Warum sollten sie, gerade auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Sorgen und Probleme im Zusammenhang mit der Münchener Olympia-Bewerbung, nicht auch Sympathien und Solidarität für tscherkessische Angelegenheiten aufbringen können? 

Der Ausschluß tscherkessischer Positionen aus der politischen Debatte, der hier von Nicole Gohlke mitpraktiziert wird, ist präemptiv. Wie soll eine demokratische Meinungsbildung stattfinden, wenn die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht einmal von den Tscherkessen und ihrer tragischen Geschichte Kenntnis erhält? Und wer entscheidet darüber, wer entscheidet anhand welcher Kriterien, was interessant und unterstützenswert ist, welcher Sachverhalt das Potential hat, ein politisches "Thema" zu werden? Wer auf diese Weise eine Vorauswahl politischer Themen trifft, bevormundet auch die deutsche Öffentlichkeit. Mir drängt sich hiermit der Eindruck auf, daß die politische Willensbildung hier nicht an der Basis beginnt, sondern an höherer Stelle und in Rücksichtnahme auf "größere" Zusammenhänge, die uns dann wie selbstverständlich als "Sachzwänge" und "Erfordernisse der Realpolitik" verkauft werden. Eine Politik, die derart ausgetretene Wege geht, so wenig inhaltliche Durchlässigkeit erlaubt, statt dessen Bürger als steuerbare Masse wahrnimmt, der lediglich vorgefertigte, als profitabel eingeschätzte Themenblöcke zur Abstimmung vorgelegt werden, kann wohl kaum dem Anspruch der Linkpartei genügen, eine "echte Alternative" zur eingefahrenen Parteienpolitik zu sein, die sich um die stets gleichen Themen dreht.

Und zu guter letzt: Wer eine Kampagne wie das deutsche NOlympia als Beispiel dafür feiert, daß auch eine „Politik von unten“  gegen eine übermächtige Medienmaschinerie erfolgreich sein kann, der hat eine falsche Vorstellung davon, auf welcher Höhe sich die Grasnarbe befindet. Der David, von dem hier die Rede ist, verfügt über die institutionelle Infrastruktur samt fertiger Kommunikationskanäle und das Prestige und politische Gewicht etablierter Organisationen und Parteien, aus denen sich das NOlympia-Bündnis zusammensetzte. (laut Nicole Gohlke "getragen durch BUND, Attac, DIE LINKE, Grüne, Naturfreunde und weitere Umweltverbände"). Ein solcher David kann sich wohl kaum vorstellen, wie mühselig eine Bewegung von untern wirklich ist, wenn all dieses fehlt und der eigene Goliath auch noch ein gutes Stück größer und bedrohlicher aussieht. 

Von Beträgen wie den 35 000 Euro, die NOlympia zur Verfügung standen, können nordkaukasische Initiativen - ob nun in Deutschland oder anderwso - nur träumen. Das Caucasus Forum, eine in Istanbul beheimatete nordkaukasische NGO, die sich mit ihren Protesten gegen Sotschi 2014 international hervorgetan hat, hat für ihre neu angelaufene Kampagne kNOw Sochi über indiegogo bisher gerade einmal 745 Dollar von einem angestrebten Betrag von insgesamt 5000 Dollar zusammen. Wer wirklich wissen möchte, wie unsere Medienmaschinerie wirkt und wie durchlässig oder undurchlässig unsere politischen Strukturen sind, der versuche sich doch einmal ohne Parteiapparat im Hintergrund an einem Nicht-Thema wie dem Völkermord an den Tscherkessen. Es könnte eine augenöffnende und politisch überaus wertvolle Erfahrung werden. 



Nachtrag 8.12.2013: Welch große Rolle das Negativbeispiel Sotschi 2014 in der Tat bei der Münchener Entscheidung gegenüber Olympia gespielt hat, zeigt auch die folgende dpa-Meldung in der TAZ (von mir leider erst mit einiger Verspätung bemerkt): Nein zu Olympia 2022 in München. Sotschi ist Schuld (11.11.2013).