Bereits am 18.12.2013 hatte ich zusammen mit 37 Mitunterzeichnern das ZDF in einem auf höfliche Weise als "Bitte" formulierten Brief darauf hingewiesen, daß das Weglassen der Tscherkessen aus ihrer Sotschi-Berichterstattung eine nicht hinnehmbare informative Verzerrung, historische Verfälschung und politische Geringschätzung von Minderheiteninteressen darstellt. Wir hatten das ZDF darum gebeten, eine Darstellung, die tscherkessische Perspektiven entsprechend berücksichtigt und Proteste von tscherkessischer Seite miteinbezieht, nachzuliefern. Eine Antwort oder Reaktion in irgendeiner Form haben wir bisher nicht erhalten. Das ZDF hat nun noch eins drauf gesetzt und am 30.12.2013 eine Dokumentation ausgestrahlt, die die Mängel des "auslandsjournal spezial" noch bei weitem toppt.
Folgender Text von mir ist zuerst im Freitag erschienen, Da er in gewisser Weise die Fortsetzung unserer bisher erfolglosen Kommunikationsversuche mit dem ZDF darstellt, stelle ich ihn nun auch auf meinem blog ein, um ihn mit meinem vorhergehenden Brief an das ZDF am gleichen Ort zusammen zu haben. Es folgt in Kürze eine formale Beschwerde an den ZDF-Fernsehrat.
Irma Kreiten:
Folgender Text von mir ist zuerst im Freitag erschienen, Da er in gewisser Weise die Fortsetzung unserer bisher erfolglosen Kommunikationsversuche mit dem ZDF darstellt, stelle ich ihn nun auch auf meinem blog ein, um ihn mit meinem vorhergehenden Brief an das ZDF am gleichen Ort zusammen zu haben. Es folgt in Kürze eine formale Beschwerde an den ZDF-Fernsehrat.
Irma Kreiten:
Das ZDF „vergißt“ die Tscherkessen
Geschichtsklitterung.
Sotschi-Berichterstattung: Konzentration auf Kosakenmythos,
„Großen Vaterländischen Krieg“ und eine scheinbar urwüchsige dörfliche
Welt verdecken Kolonialverbrechen
Das ZDF erhebt mit seinen Doku- und
Reportageformaten den Anspruch, investigative Recherche und kritischen,
unahbängigen Journalismus zu präsentieren. Was das ZDF momentan an
politischer Berichterstattung zu Sotschi 2014 bietet, ist dahingegen
weder gut recherchiert, noch politisch aufgeweckt, noch selbstreflexiv
genug, um nicht auf kolonialistische Erzählmusteer und
geschichtsklitternde Wirklichkeitsausschnitte zurückzufallen. Es zeigt
sich dies an gleich zwei Sondersendungen – beide mit der Intention und
dem Anspruch, einen kritischen Blick auch auf die Schattenseiten von
Sotschi 2014 und dem Regime Putin zu werfen.
Quellen:
Sternfeldt, Andreas/ Thöns, Bodo: Die russische Schwarzmeerküste. Unterwegs zwischen Soči und Anapa. Berlin: 2005
z.B. in Thomas Barrett: At the Edte of Empire. The Terek Cossacks and the North Caucasus Frontier, 1700-1860, Boulder: 1999, S. 13
Polovinkina, Tamara V.: Čerkesija – bol' moja. Istoričeskij očerk (drevnejšee vremja – načalo XX v.). Majkop: 2001, S. 34 und S. 14-29 zur Ethnogenese.
Bezengi: Budet-li tret'ja žizn'? Case-study, Oktober 2009, unter: http://ramcom.net/?p=925
Kazenin, Konstantin: Health Resort Construction in the North Caucasus: Exacerbation of the Land Issue. Russian Economic Developments Nr. 1, 2013 (Gaidar Institute for Economic Policy), S. 69-73, unter: http://www.iep.ru/files/RePEc/gai/recdev/60Kazenin.pdf
Die Sondersendung „auslandsjournal spezial - Putins Winterspiele: Macht, Medaillen und Milliarden“
(Moderation: Theo Koll), die erstmals am 20.11.2013 im ZDF lief, bot
mit ihren Einzelbeiträgen ein breites Spektrum an Themen, vom fehlenden
Umweltschutz über LGBT-Rechte bis hin zu Arbeiterprotesten. Sie erweckte
damit den Anschein, die Zuschauer umfänglich und vor allem auch
kritisch über die verschiedensten Aspsekte der Austragung der
Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi unterrichtet zu haben. Dem war
aber beileibe nicht so. Während selbst den Problemen des russischen
Breitensports ein gesonderter Bericht gewidmet wurde, fiel eines aus:
die Tscherkessen als ursprüngliche Bewohner der Region hat man nicht zu
nicht zu Wort kommen lassen.
Weder tscherkessischen Forderungen nach historischer Gerechtigkeit –
der im 19. Jahrhundert an ihnen begangene Völkermord wurde nie
politisch aufgearbeitet – noch Einwänden gegen den aus nordkaukasischer
Sicht höchst pietätslosen, triumphalistischen Umgang mit der
Kolonialgeschichte im Rahmen der Spiele, keinem von beidem hat man Gehör
geschenkt. Schlimmer noch: das auslandsjournal verschweigt die Existenz
dieses Volkes, seine Geschichte und Kultur gleich ganz. In insgesamt 30
Minuten Sendezeit fällt auch nicht nur einmal das Stichwort
„Tscherkessen“. Ein kollektiver Brief an das ZDF,
der sich zum Ziel gesetzt hatte, dies zu ändern, der die Macher des
auslandsjournal wie auch den ZDF-Themendesk auf die an den Tscherkessen
begangenen Massaker und Deportationen hinwies und höflich bat, man möge
doch, gerade auch angesichts der allgemein fehlenden historischen
Aufarbeitung, das beim ZDF Versäumte in Form einer gesonderten Reportage
nachholen, blieb bis zum heutigen Tage völlig ohne Reaktion und Antwort
- auch dies ein Zeichen der Mißachtung und des Desinteresses zumindest
gegenüber den Belangen der tscherkessischen Diapsora in Deutschland. Um
so mehr Spannung hatte im Vorfeld die zweite ZDF-Sondersendung unter dem
eher einfallslosen Titel „Durch den wilden Kaukasus“ erzeugt.
In der Sendung „Durch den wilden Kaukasus. Winterspiele in Sotschi“(Buch: Anne Gellinek)mit Erstausstrahung vom 30.12.2013 wird
– anders als im auslandsjournal spezial - tatsächlich auch der Anspruch
erhoben, eine gewisse historische Tiefe zu vermitteln. Bereits in der
Eingangssequenz läßt die Formulierung „Schroff und steil trotzten die
Bergrücken des Kaukasus ihren Eroberern – bis Putins Winterspiele kamen“
jedoch den Eindruck entstehen, es handele sich bei der Region Sotschi
um eine unberührte Naturlandschaft, die nun erstmalig mit ihren
russischen Bezwingern in Berührung komme. Ganz so, als habe an den
Stätten des heutigen Olympia im 19. Jahrhundert kein blutiger
Eroberungskrieg getobt, als hätten in dessen Anschluß russische Soldaten
nicht jedes Tal abgesucht und jeden Stein umgedreht um sicherzustellen,
daß ja keinem Tscherkessen der Weg ins Exil erspart bliebe. Trotz
historischer Reminiszenzen fehlt, ganz wie beim auslandsjournal, jegliche Bezugnahme auf die Tscherkessen selbst wie auch auf die kolonialen Massaker und Deportationen, die der Region erst ihre heutige ethnische Zusammensetzung und damit auch ihr Gesicht als moderne Vergügungs- und Ferienlandschaft gaben.
Substituiert wird die Schilderung der kolonialhistorischen Zusammenhänge durch eine revisionistische Präsentation der Kosaken als die regionalen Traditionen wahrende einheimische Bevölkerung (31:19 – 35: 32) . Bereits im Ankündigungstext der ZDF-Dokumentation ist auf ahistorische Weise von „Kosaken, die schon immer an den Grenzen Russlands gelebt haben” die Rede. Im gesonderten Begleittext zum Filmausschnitt „Wettkämpfe im Kosakenland“
heißt es ergänzend: „Die Region um Sotschi, der Kuban, ist Kosakenland.
Schon die Zaren schickten die Kosaken als Wehrbauern ins Grenzgebiet
zum Kaukasus, um Russland zu verteidigen.“ Um festzustellen, daß dies so
nicht richtig ist, hätte bereits ein Blick in den marktüblichen
deutschsprachigen Reiseführer zur russischen Schwarzmeerküste genügt
(1).
Während sich die Kosaken seit dem 16. Jahrhundert in den
Steppengebieten nördlich des Kaukasus aus dem Machtbereich von Zar und
Grundeigentümer entlaufenen Bauern zu formieren begannen (2) und diese
erst im Zuge der russischen Eroberungspolitik, d.h. gegen Mitte des 19.
Jahrhunderts, in das Siedlungsgebiet der Tscherkessen verpflanzt wurden,
läßt sich die Bezeichnung „Tscherkessen“ für die Bewohner der
Schwarzmeerküste anhand schriftlicher Quellen bis ins 13. Jahrhundert
zurückverfolgen. Eventuell reicht die Ethnosbildung der Tscherkessen
sogar bis ins erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung zurück (3). Die
Tscherkessen (im weiten, die verschiedenen westkaukasischen Stämme und
Bevölkerungsgruppen umfassenden Sinne) können damit wie kein anderes
heute noch lebendes Volk für sich reklamieren, die autochthone
Bevölkerung des Westkaukasus darzustellen. Die Kosakenkultur als solche
hingegen entstand in den nördlichen Steppengebieten erst durch die
Hybridisierung bäuerlicher russischer Gewohnheiten mit lokalen
nordkaukasischen Traditionen - infolge eines Anpassungs- und
Lernprozesses der aus Zentralrußland stammenden Bauern an ihre neue,
ungewohnte Umwelt. Demzufolge ist auch ein Großteil dessen, was uns im
Film als genuin „kosakisch“ präsentiert wird, der Kultur und den
Traditionen der Tscherkessen entlehnt und mit diesen großteils
identisch.
Zu seinem Zeitpunkt, zu dem ein weiteres Mal die Erinnerung an
die tscherkessische Präsenz in der Region unterdrückt und Spuren
beseitigt werden sollen, Museumsausstellungen geschlossen, imperiale
Denkmäler wiedererrichtet und politische und intellektuelle Wortführer
nordkaukasischer Ethnien drangsaliert werden, erweckt die
ZDF-Dokumentation geradezu absurderweise den Anschein, als sei Präsident
Putin jemand, der nach den Verboten der Sowjetzeit nun lokale
Traditionen wieder restauriere. So heißt es im Reportageteil zu den
Kosaken aus dem Off: „Unter Putin dürfen sie ihre Traditionen wieder
leben – wie früher sollen sie Rußlands Ruhm verteidigen“. Im Gegensatz
zu dem, was der Begriff „verteidigen“ hier suggeriert, wurden die Terek-
und Kubankosaken, nachdem sie im 18. Jahrhundert in russischen
Staatsdienst übergegangen waren, jedoch weitaus weniger zur bloßen
Verteidigung russischen Grenzen eingesetzt, sondern s vielmehr für eine
aggressive Politik der imperialen Ausdehnung. Sofern sie nicht (in
Einzelfällen) die Seiten wechselten oder rebellierten, waren die Kosaken
auch an der zarischen Politik des Terrors gegenüber den Tscherkessen
beteiligt, halfen sie mit bei der Durchführung der ethnischen
Säuberungen und Deportationen der 1850er und 1860er. Sie waren es auch,
die nach Vorstellung der russischen Regierung nach der Vertreibung und
Ermordung der lokalen Bevölkerung den Westkaukasus besiedeln sollten. Es
sind also die Eroberer selbst, die uns das ZDF als „traditionelle
Bevölkerung“ präsentiert.
Eine weitere Substituierung der Geschichte der Tscherkessen
durch eine andere, spätere und „europäischere“ Erzählung erfolgt im Film
von Minute 15:16 bis 20:59. Geschildert wird ein Ausflug zum
Kriegerdenkmal bei Krasnaja Poljana am 9. Mai. Die Beschreibung eines
der lokalen russischen Gesprächspartner, es handele sich beim
Ausflugsziel um den „einzigen Ort in den Bergen von Krasnaja Poljana, an
dem zwei Armeen sich erbittert bekämpft haben“, wird von Anne Gellinek
unkommentiert stehengelassen. Ebenso wenig wird die Bemerkung, man wolle
„die Menschen ehren, die hier gefallen sind“, historisch eingeordnet.
Für diejenigen, die mit der Koloniageschichte des Nordkaukasus vertraut
sind und auf deren Erwähnung im Film warten, sind diese unkommentierten
Aussagen und die folgende Konzentration auf das Denkmal zum sowjetischen
Tag des Sieges der blanke Hohn. Natürlich ist gerade auch für ein
deutsches Publikum das Leid, das der hitlersche Angriff über die
Menschen der Sowjetunion brachte, erwähnenswert, allein der hier
suggerierte regionale Bezug erschließt sich nicht: die Armee
Hitlerdeutschlands hat ihren Angriff gegen Rußland an einer Front von
mehreren tausend Kilometern Länge durchgeführt, der Mißerfolg der
Operation Edelweiß (im Herbst 1843) ist nicht vor Ort in Krasnaja
Poljana entschieden worden und auch der 9. Mai (1945) ist ein
gesamtrussisches Datum ohne spezifische lokalhistorische Bedeutung.
Die enttäuschte Zuschauererwartung und die absurden Untertöne
für der Geschichte des Westkaukasus Kundige resultieren daraus, daß es
in der Tat ein militärische Entscheidung von historischer Tragweite gab,
die in unmittelbarer Umgebung von Krasnaja Poljana – und nur dort –
fiel. Am 10. und 11. Mai 1864 fanden in der Umgegend von Krasnaja
Poljana (Täler der Mzymta und Psou) die Gefechte zwischen russischen
Truppen und Ahchipsou (vom Stamme der Abaza) als den letzten
Tscherkessen, die noch nennenswerten Widerstand zu leisten in der Lage
waren, statt. Die Niederlage der Abaza besiegelte den Untergang der
Tscherkessen im Westkaukasus, es folgten genozidale Deportationen ins
Osmanische Reich. Die Hochebene Kbaada - heute als „Krasnaja Poljana“
Teil des Olympia-Projektes - ist der Ort, an dem das zarische Rußland am
21. Mai 1864 den erfolgreichen Aschluß seines rund hundertjährigen
kolonialen Eroberungskrieges im Nordkaukasus feierte - wie es Imperien
zu tun pflegen, mit Gottesdienst und Siegesparade. Für die Tscherkessen
symbolisiert dieser Ort hingegen die Trauer über den verlorenen Krieg,
die vielen Toten, den dauerhaften Verlust ihrer Heimat und Wut über das
triumphierende Verleugnen des Siegers.
Der Film jedoch folgt in seinem kurzen Ausflug in die
Vergangenheit ausschließlich der Perspektive russischer „Patrioten“, die
anläßlich des aus sowjetischen Zeiten stammenden Gedenktages sich der
Menschen, die für „unsere Freiheit, unser Land, für unsere Heimat
gestorben sind“, erinnern. Die Tscherkessen, die bei Krasnaja Poljana
für ihre Freiheit, ihr Land und ihre
Heimat ihre letzte vergebliche Schlacht gegen die russischen Eroberer
schlugen, sind dem ZDF auch hier, in unmittelbarer Nähe zum historisch
symbolträchtigsten Ort, keine Erwähnung wert. Was zu einem kritischen
Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte und einem Stück
deutscher Vergangenheitsbewältigung hätte werden können, gerät im
Geschichtsverschnitt des ZDF (ebenfalls O-Ton der fraglichen Passage:
„Keiner ist vergesssen, nichts ist vergessen“) zum grotesken Akt des
gemeinsamen Verschweigens und Verleugnens eines kolonialen Völkermordes.
Die Tscherkessen, die in Folge der russischen Politik der verbrannten Erde oder im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen und russischer Massaker im
Westkaukasus selbst umgekommen waren oder aschließend auf dem Weg ins
osmanische Exil zu zehntausenden starben, ihrer wird hier von
russisch-deutscher Seite nicht gedacht und erinnert.
Ignorant ist der Dokumentarfilm „Durch den wilden Kaukasus“
jedoch nicht nur gegenüber den Tscherkessen, sondern auch gegenüber
weiteren nordkaukasischen Ethnie, den Balkaren mit einer ebenfalls
traurigen Vergangenheit. In einer weiteren Reise-Episode (Minute 35:40
-41:13) beschäftigt sich die ZDF-Reportage mit dem Dorf Bezengi, das als
Exempel dafür herhalten muß, daß auch noch andernorts als in Sotschi
die Schaffung moderner Skizentren geplant und mit Konflikten behaftet
ist. Beschrieben wird die geographische Lage des Dorfes als „auf der
Rückseite des großen Kaukasus-Kamms jenseits von Sotschi“ gelegen. Weder
wird im Film erwähnt, daß der Ort bereits zu Kabardino-Balkarien als
einer Teilrepublik der Russischen Föderation gehört (um zumindest den
Namen der Republik zu lesen, muß man schon die mit der Dokumentation
mitgelieferte Bildstrecke
duchklicken, weitere Informationen finden sich allerdings auch dort
nicht) - noch wird gesagt, daß es sich bei den Dorfbewohnern um
Angehörige der Titularnation der Balkaren handelt. Warum der lokale
Gesprächspartner von Anne Gellinek als ein „Husein vom Ältestenrat“
vorgestellt wird, erschließt sich somit nur dem, der nicht auf
Informationen durch das ZDF angewiesen ist.
Bereits die einleitenden Kommentare zur Vorstellung des Ortes
erwecken ein Bild urwüchsiger Rückständigkeit, die früher oder später
einer westlich geprägten Moderne weichen wird. Es heißt: „In Bezengi
sind Straße und Welt zuende. Noch knapp 600 Menschen und genausoviele
Kühe leben hier.“ Das als „Cluster“ bezeichnete zukünftige Skigebiet sei
von der Regierung beschlossen worden, „um die Region zu entwickeln“.
Das Projekt wird allerdings auch von den Filmemachern selbst als „Ort,
der das aussterbende Gebirgsdorf retten soll“, als Hoffnungsobjekt der
gesamten Dorfbevölkerung dargestellt: „Es gibt keine Arbeit in Bezengi
und deshalb träumen alle von Cluster“. Zwar wird erwähnt, daß das Dorf
um seine Zukunf im Streit liege und man sich Sorgen um das Weideland
mache, jedoch wird dieses Problem letztendlich auf die Frage reduziert,
ob die lokale Bevölkerung auch ausreichend Möglichkeiten zur Teilhabe an
Vorzügen und Gewinn des Projektes erhalte.
Bereits der russische Wikipedia-Eintrag zu Bezengi
verweist jedoch auf eine ganz andersgeartete, tiefergehende und
schwerwiegendere Wahrheit: die Dorfbewohner gehörten als Balkaren zu
jenen Volksgruppen, die von Stalin während des 2. Weltkrieges als
„feindlich“ nach Zentralasien deportiert wurden. Zurückkehren duften sie
erst nach Stalins Tod im Jahr 1957. Eine vollständige Rehabilitierung
und Wiederherstellung der ursprünglichen Besitzverhältnisse hat nie
stattgefunden, auch nach der Entkollektivisierung der 1990er nicht.
Wie eine bequem im Internet einsehbare Regionalstudie (4)
ausführt, gehörte das besagte Dorf Bezengi zu insgesamt 7 Dörfern im
Chulamo-Tal, von denen im Jahr 1937 –so die Studie – das Dorf Chulam für
sich allein genommen schon 1000 Höfe zählte. Nach der Rückkehr der
Balkaren aus Zentralasien im Jahr 1957 wurde ausschließlich das Dorf
Bezengi wiederbelebt, mit lediglich 187 Höfen. Was diese Zahlen bereits
andeuten: eine vollständige Rehabilitation hat nicht stattgefunden, auch
im ökonomischen Sinne nicht, die Besitzverhältnisse sind weiterhin
ungeklärt, so daß es den Dorfbewohnern ganz erheblich an Weideland
fehlt, von dem ein Großteil unterdessen in der Hand eines Monopolisten
brachliegt. Das Dorf stirbt nicht, wie uns das ZDF glauben machen
möchte, aufgrund von überkommenen, nicht mehr zeitgemäßen
Wirtschaftsstrukturen, sondern einer auf halbem Wege steckengebliebenen
Rehabilitation und Entkollektivierung. Es ist umgekehrt so, daß für eine
traditionelle Bewirtschaftung die traditionellen Besitzverhältnisse
fehlen (4). Der geplante Bau eines Skiresorts droht dieses Problem noch
zu verschärfen und trifft deswegen auf heftigen Widerstand, nicht bloße,
eher technische Meinungsverschiedenheiten (5).
Während der Film ein natürliches
Aussterben nicht mehr zeitgemäßer Lebensformen suggeriert und damit eine
Auffassung historischen Wandels bemüht, wie sie im Evolutionismus des
19. Jahrhunderts ihr Licht erblickt hatte (und auch von den russischen
Kolonisatoren für den Nordkaukasus so formuliert worden war), täuscht er
uns über die Folgen der Stalinverbrechen, des Zusammenbruchs der
Sowjetunion und einer fortgesetzt kolonialistischen Haltung der
russischen Regierung hinweg. Nicht das Klammern an die Tradition sorgt
für den Niedergang des Dorfes, es sind die anderwso bestimmten
politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die eine wirkliche
Entkolonialisierung und Rückkehr zu einer selbstbestimmten Lebensweise
verhindern.
Sowohl in Bezug auf die Tscherkessen als auch in Bezug auf die
Balkaren läßt sich feststellen: während der Film sich in Hinsicht auf
die aktuelle russische Regierungspolitik distanziert gibt und bisweilen
gegenüber Putin einen derart süffisant und ironischen Ton auflegt, daß
die Kritik a ihm auch nicht mehr wirklich ernst und sachlich scheint,
könnte die vom ZDF gebotene Geschichtsversion mit ihrem Ablenken und
Überdecken von postkolonialer Problemen mit einem Kosakenmythos auf der
einen und einer staatlichen Entwicklungsthetorik auf der anderen Seite
nicht kremltreuer sein.
Ist es Absicht, daß uns das ZDF die Kolonialgeschichte der
Region und sogar Existenz und Namen der autochthonen Bevölkerung
verschweigt? Hat die studierte Osteuropahistorikerin und Leiterin des ZDF-Studios Moskau Anne Gellinek,
nur wenige Mausklicks oder einen Blick in den Reiseführer entfernt, die
entsprechenden Informationen nicht gefunden? Schiebt das ZDF
Ablenkungsmanöver oder ist es selbst Opfer geschichtsrevisionistischer
Täuschungsversuche seiner russischen Gastgeber geworden? Ist es
schlampige Recherche gepaart mit einem vorurteilsbeladenen Blick, der
nur das Altbekannte sucht? Oder liegt die Schuld bei den Denkrastern des
weißen Europäers, der seine ganz eigenen Vorstellungen davon hat,
welche Themen und Aspekte zählen und welche nicht, der die Rechte und
Probleme indigener Bevölkerungen als „Nicht-Europäer“ nicht ernst nimmt?
Ich weiß es nicht, würde aber doch stark vermuten, daß
Verdrängungsmechanismen, wie sie klassischerweise bei Kolonialverbrechen
und Genoziden ablaufen, an beiden Filmen in ihrer speziellen,
geschichsverzerrenden Form zumindest beteiligt waren.
Ein kleines, verdruckstes Eingeständnis bzw. ein mögliches
unbewußtes Registrieren des Abwesenden findet sich denn auch in mehrern
kleinen Details am Rande der Reportagen selbst, die zusammengenommen
ebenfalls eine Verschiebung, Verdrängung und Substituierung ergeben: im auslandsjournal spezial
ist bei Minute 8:03 ganz kurz von den "letzten Ureinwohner von Krasnaja
Poljana“ die Rede, dann aber schwenkt die Kamera doch nur auf eine
Dorfbewohnerin mit russischem Namen, deren ethnische Identität das ZDF
dann einfach offen läßt. In einem weiteren Akt des Verschiebens auf ein
Ersatzobjekt taucht der Begriff „Ureinwohner“ dann in der Bildstrecke „Olympiafieber im Kaukasus“
auf. Während der Film selbst mit dem Satz „Obwohl sie mitten drin sind,
bleiben Natasha und Ilja außen vor“ noch recht prosaisch kritisiert,
daß die örtliche – russische (!) – Bevölkerung nicht am Olympiageschäft
beteiligt wird, heißt es in der Bildquelle (Bildunterschrift Bild 23) zu
eben diesem russische Ehepaar dann sogar: „ZDF-Autorin Anne Gellinek im
Gespräch mit Natascha und Ilja, sie sind sozusagen die letzen
„Ureinwohner“ der Stadt“.
Die Ersetzung der eigentlichen Ureinwohner, der Tscherkessen,
durch russische „Sozusagen-Ureinwohner“, sie ist nicht nur eine
unbewußte Reinszenierung der zarischen Bevölkerungspolitik, auch sie hat
ihre literarischen Vorbilder in der europäischen und russischen
Kolonialliteratur, in der auf ähnlich halb-nostalgische,
halb-fatalistische Weise über das „Verschwinden der Eingeborenen"
sinniert wurde. Die Tscherkessen, ebenfalls „mitten drin“ und doch
„außen vor“, müssen unterdessen aus der Ferne zusehen, wie sich ein Teil
ihrer tragischen Geschichte – der des Vergessens, Verdrängens und
Verleugnens - wiederholt.
Nachtrag: Daß es auch anders geht und selbst ein eher
unterhaltsam angelegtes Reiseformat zu einem respektvolleren Umgang mit
den Tscherkessen, ihrer Geschichte und Kultur finden kann, zeigt der MDR
in seiner neuen fünfteiligen Reihe „Mit Sack und Pack nach Sotschi“.
Auch wenn in der bisher ausgestrahlten ersten Folge die Tscherkessen
eher folkloristisch präsentiert werden und ihre „Vertreibung“, wie es
hier heißt, nur kursorisch erwähnt wird, so darf man doch gespannt auf
die weiteren Folgen warten, für die uns unter anderem der Besuch einer
schapsugischen Hochzeit versprochen wird.
Für Aktive: Eine formale Beschwerde an den
ZDF-Fernsehrat ist in Kürze auf meinem blog unter
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/ zu finden und kann dort auch
mitunterzeichnet werden. Bereits jetzt unterzeichnet werden kann eine Petition auf change.org,
mit der wir die deutsche Politik auf die Tscherkessen hinweisen und die
Öffentlichkeit für ihre Anliegen sensibilisieren möchten.
Sternfeldt, Andreas/ Thöns, Bodo: Die russische Schwarzmeerküste. Unterwegs zwischen Soči und Anapa. Berlin: 2005
z.B. in Thomas Barrett: At the Edte of Empire. The Terek Cossacks and the North Caucasus Frontier, 1700-1860, Boulder: 1999, S. 13
Polovinkina, Tamara V.: Čerkesija – bol' moja. Istoričeskij očerk (drevnejšee vremja – načalo XX v.). Majkop: 2001, S. 34 und S. 14-29 zur Ethnogenese.
Bezengi: Budet-li tret'ja žizn'? Case-study, Oktober 2009, unter: http://ramcom.net/?p=925
Kazenin, Konstantin: Health Resort Construction in the North Caucasus: Exacerbation of the Land Issue. Russian Economic Developments Nr. 1, 2013 (Gaidar Institute for Economic Policy), S. 69-73, unter: http://www.iep.ru/files/RePEc/gai/recdev/60Kazenin.pdf