Am 2. Oktober 2013 erscheint das neue Buch von Manfred Quiring mit
dem Titel: „Der
Vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen.“. Der Autor wie auch Edda Fensch, Pressechefin des Ch. Links Verlag, haben mir
freundlicherweise gestattet, hier vorab zwei Passagen des Buches
einzustellen. Beiden sei an dieser Stelle überaus herzlich gedankt.
Manfred Quiring hat u.a. als Rußland-Korrespondent für „Die
Welt“ gearbeitet und ist Autor eines weiteren, 2009 erschienen
Buches zum „Pulverfass
Kaukasus“, wie auch des Titels „Russland.
Orientierung im Riesenreich“. Ein Interview mit Manfred Quiring von Jinal Tamzsuqo ist auf der tscherkessischen Webseite cherkessia.net abrufbar unter:
Manfred Quiring: „Der Vergessene Völkermord. Sotschi und die
Tragödie der Tscherkessen. Mit einem Vorwort von Cem Özdemir.“.
Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013
ISBN: 978-3-86153-733-5
Seiten: ca. 224
Preis: ca. 16,90 EURO
[S. 26]
Umweltsünden
in der Imereti-Niederung
»Die
Imereti-Niederung ist schon jetzt unwiederbringlich zerstört«,
beklagte sich Alik Le, einer der Aktivisten im Widerstand gegen die
gewaltige Maschinerie von Olympstroi (Olympiabau), bei unserer
Begegnung im Sommer 2010. »Und wofür das alles?«, grollte er.
»Nur, um 25 Tage lang internationale Sportspiele abhalten zu können.
Dieses System ist gegen die Menschen gerichtet.« Da standen noch ein
paar der schlichten Häuser des Dorfes, eingeklemmt zwischen der
Küste und dem Bauplatz von Olympic City. Ljubow Fursa, in deren Hof
wir uns über das Unausweichliche unterhielten, zeigte mir ihren
Gemüsegarten. Es würde wohl die letzte Ernte sein, die sie hier
einbringen werde, meinte sie resigniert. Baumaschinen rückten immer
näher an die letzten Protestler heran, die mit einem Hungerstreik
versuchten, für ihre Rechte zu streiten.
»Sie
wollen, dass wir nach Nekrassowka gehen oder uns durch Geld abfinden
lassen«, erzählte der 33-jährige Pawel Schukowski, ein wegen
Krankheit vorzeitig aus der Armee entlassener Offizier. Aber das
wollten sie nicht. Die ursprünglich festgelegten
Entschä[-]digungssummen
verlören infolge der Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt rasant
an Wert, und die Häuser in Nekrassowka seien
aus
minderwertigem, gesundheits- und feuergefährlichem Material
errichtet, sagte Pawel.
Er und
die anderen Protestler kannten natürlich das speziell geschaffene
Olympiagesetz 310, das die Verfassung für diesen Teil der Russischen
Föderation praktisch außer Kraft setzt und es erlaubt, das Land,
das für die Wettkampfanlagen und die Infrastruktur benötigt wird,
zu enteignen. Mit entsprechenden Kompensationen, versteht sich. Laut
Gesetz soll jeder der Betroffenen selbst entscheiden können, ob er
sich auszahlen lassen will, ob er das Angebot zur Umsiedlung in ein
neues Domizil annimmt oder sich mit einem Ersatzgrundstück abfinden
lässt.
Doch
Gesetz und Realität sind in Russland zwei Dinge, die nur selten zur
Deckung gebracht werden können. In Sotschi herrschten noch einmal
besondere Bedingungen, da die Fristen für das Baugeschehen eng
bemessen waren und die Verwaltungen aller Ebenen nicht begriffen,
dass auch bei staatswichtigen Projekten Rücksicht auf die
Bevölkerung genommen werden muss. »Wir zählen einfach [S.
27] nicht, niemand spricht mit uns«, beklagte sich der
Ex-Offizier Pawel Schukowski. »Viele von uns, die hier schon lange
leben, haben es versäumt, ihre Häuser und Grundstücke rechtzeitig
als Eigentum registrieren zu lassen [Anm.16],
das war ja früher bei uns nicht so wichtig. Jetzt bestreiten die
Behörden der Stadt, dass einige von uns überhaupt über Eigentum
verfügen.« Das Resultat: Etliche Familien, die mit mehreren
Generationen in einem Haus gelebt hatten, fanden sich plötzlich in
einer Zwei-Zimmer-Wohnung wieder.
Drei
Jahre später, im Frühjahr 2013, besuchte ich den Ort erneut. Alle
waren fort, und nur ein paar leerstehende Häuser erinnerten noch an
das Dorf. »Die Leute wurden alle nach Nekrassowka umgesiedelt,
schöne Häuser dort. Komm, ich zeig’s dir«, bietet mir Eduard
Sitnikow an. Der pensionierte mittelständische Unternehmer fuhr mich
mit seinem Toyota Land Cruiser durch das einstige Naturschutzgebiet.
»Früher sind wir immer hierher zum Fischen und Grillen an die
Msymta gefahren«, erinnerte er sich mit einiger Wehmut. »Besonders
im Frühjahr und im Herbst war es einfach überwältigend.
Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende Zugvögel machten hier
immer Halt, ehe sie weiterflogen. Ein gewaltiges Naturschauspiel.«
Damit ist es jetzt natürlich vorbei. Das Imereti-Tal wurde
plattgewalzt. Riesige Sportstätte, Schildkröten gleich, breiten
sich hier aus. Nekrassowka erreichten wir an dem Tage nicht mehr.
Während vorne im großen Eispalast ein Jahr vor den Spielen die
ersten Wettkämpfe ausgetragen wurden, blieb Eduards Wagen am
Hintereingang beinahe im Schlamm stecken. Wir mussten umkehren.
»Jetzt
wollen sie auch noch das letzte Stückchen Natur in der
Imereti-Niederung betonieren«, beklagte sich Wladimir Kimajew,
pensionierter Offizier der Weltraumtruppen, Leitungsmitglied von Eco
Watch im Nordkaukasus und Vertreter der liberalen JablokoPartei in
Sotschi, den ich anschließend zu einem Kaffee traf. Es geht um einen
700 Meter langen Sandstrand, »den einzigen dieser Art an der
russischen Schwarzmeerküste. Dieses Stückchen Uferzone ist der
Lebensraum für eine ganze Reihe sehr seltener Pflanzen«, sagte
Kimajew, der nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst den
Naturschutz zu seiner Passion gemacht hat. »Dort gibt es
Stranddisteln, Wolfsmilch, Seekohl und viele andere seltene Pflanzen,
sie sollen unter dem Beton einer Strandpromenade begraben werden«,
[S.
28] empörte
er sich. Die örtlichen Behörden wollten das von der Regierung in
Moskau verfügte Projekt auf Biegen und Brechen durchsetzen. »Ein
Gericht hat einer Naturschützerin sogar das Betreten des Strandes
verboten.«
Dieses
Stückchen Natur war 1993 eigentlich auf Betreiben der örtlichen
Abteilung der Russischen Geografischen Gesellschaft im Generalplan
der Stadt Sotschi als schützenswertes Naturdenkmal aufgenommen
worden. Präsident der russischen Gesellschaft ist
Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den die Probleme seiner
Unterabteilung in Sotschi kaltlassen. Auch die Behörden kümmern
sich nicht um die Einwände der Fachleute. Trotz einer
wissenschaftlichen Expertise über die Einmaligkeit der dort
vorkommenden Flora gaben sie den Startschuss zum Bau. Unter
Polizeibewachung rückten im April 2013 die ersten Bohrtrupps auf das
Gelände vor.
[16] Nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion hatten diejenigen, die Grundstücke und Datschen nutzten,
die Möglichkeit, sie bei den Behörden als Eigentum registrieren zu
lassen. Das nahmen viele Russen anfangs nicht so ernst, zudem
weigerten sich die Behörden aus Willkür oft, das zu tun. Selbst
dann, wenn der Immobilienkauf schon im Neuen Russland stattgefunden
hatte.