Veysel Özcan, Büroleiter von Cem Özdemir, hat mir heute die untenstehende Antwort von Cem Özdemir zukommen lassen - trotz Wahlkampfhektik und einer verspäteten Anfrage meinerseits (andere von mir angefragte Bundestagskandidaten hatten ein Standardschreiben erhalten und waren damit früher informiert). Hiermit also meinen herzlichen Dank an Cem Özdemir wie auch an Veysel Özcan!
"Sehr geehrte Frau Kreiten,
ich danke Ihnen für Ihre Nachricht zu diesem wichtigen Thema. Ich bitte um Ihr Verständnis,
dass ich derzeit angesichts des Wahlkampfs und meines dichten Kalenders leider nicht die
Zeit finde, die recht umfassenden Fragen zu beantworten. Ich schicke Ihnen aber gerne mein
Vorwort für das Buch von Manfred Quiring. Sie können es gerne auf Ihrer Seite unter Angabe der
Quelle veröffentlichen, der Verlag ist damit einverstanden.
Mit freundlichen Grüßen
Cem Özdemir
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Manfred Quiring: „Der Vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen. Mit
einem Vorwort von Cem Özdemir.“ Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013.
Vorwort
Cem
Özdemir
Dieses
Buch bringt nicht nur vielen Leserinnen und Lesern eine wohl fremde
Kultur näher, sondern auch dem Autor dieses Vorworts. Denn obwohl
mein Vater ein Tscherkesse aus der Türkei ist, hatte ich selbst
lange Zeit kaum Kenntnisse über das Volk und die Kultur seiner
Vorfahren. Mein Wissen beschränkte sich zunächst auf die üblichen
Klischees: Die Reit- und Kampfkunst der tscherkessischen Männer oder
die Schönheit der tscherkessischen Frauen, von denen viele im
Kaukasus entführt und an den Sultanshof verschleppt wurden. Auch war
mir nicht bekannt, dass Tscherkessen nicht nur in der Türkei,
sondern auch in Jordanien, Syrien, ja sogar in Israel leben.
Für
die Tscherkessen in aller Welt ist der 21. Mai ein Tag der traurigen
Erinnerung an die Vertreibung im Jahre 1864. Es ist ein Tag, der an
all das Leid erinnert, das nach der Niederlage gegen die Russen in
der kaukasischen Urheimat begann. Aber er erinnert sie auch daran,
dass es Ihnen bis zum heutigen Tag gelungen ist, die Erinnerung an
ihre Kultur und Geschichte zu bewahren. Auch dieses Buch trägt
maßgeblich dazu bei.
Zahlreiche
Tscherkessen, die nach ihrer Vertreibung später Türken wurden, sind
– so wie mein Vater – durch die Anwerbung von Gastarbeitern in
den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen. Für viele war gerade
die Demokratie und Vielfalt in Deutschland Anlass, sich öffentlich
als Minderheit zu begreifen und ihre Kultur zu zelebrieren. Daher
finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder
tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre
Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen
Heimat zu vermitteln. Tscherkessen wurden in der Diaspora und in all
den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat
gefunden haben, schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft und
Kultur zu vergessen.
In der Türkei,
einem Land, in dem es vor einiger Zeit offiziell keine kurdische
Sprache und Kultur gab und das sich bis heute mit seiner kulturellen,
religiösen und ethnischen Vielfalt schwer tut, wurden lange Zeit
alle verallgemeinernd als Tscherkessen bezeichnet, die aus dem
Kaukasus stammen. Je tiefer man jedoch in die Materie eindringt,
desto deutlicher wird, dass die Völker des Kaukasus, und speziell
die zahlreichen Ethnien des Nordkaukasus viele unterschiedliche
Sprachen sprechen. Sie sind vor allem durch das Kaukasusgebirge und
die Erinnerung an das gemeinsame Leid miteinander verbunden. Die
Tscherkessen, die sich selbst „adyge“ nennen, wollen auch in
Deutschland nicht nur durch ihre beeindruckenden Folkloretänze
wahrgenommen werden, sondern auch als eine bedrohte, alte Kultur, die
nur überleben kann, wenn sie unterstützt wird und die Verbindung
zur Urheimat im Kaukasus nicht abreißt.
Damit
dies auch für die Zukunft gelingt, müssen Tscherkessen sich
gemeinsam mit anderen für den Erhalt der einzigartigen Natur des
Kaukasus einsetzen, gerade im Vorfeld und während der Olympischen
Spiele 2014 in Russland. Wer einmal, so wie ich mit meinem Vater vor
einigen Jahren, die Berge des Kaukasus erlebt hat und durch
unberührte Wälder wandern durfte, wird verstehen, warum die
Tscherkessen Angst davor haben, dass Geldgier und mafiöse Strukturen
im heutigen Russland ihre Heimat bedrohen.
Da
die Tscherkessen heute über viele Länder der Welt verteilt sind und
sie somit keine gemeinsame Sprache mehr verbindet, wird ihre Kultur
oft auf die berühmten Tänze und die legendären tscherkessischen
Hochzeiten reduziert. Es ist daher eine anspruchsvolle Aufgabe, die
Adygejer dem Vergessen zu entreißen und ihre gesamte Geschichte und
Kultur international bekannt zu machen. Dieses Buch hilft dabei, und
ich hoffe, dass es nicht nur unter Tscherkessen viele Leser findet.
Berlin,
im August 2013"