Michael Bayer, Mitglied der Chefredaktion der Frankfurter Rundschau, hat von mir heute folgenden offenen Brief erhalten:
"Sehr geehrter Herr
Bayer,
Ich bin
Historikerin und Ethnologin und habe mich vor einigen Jahren auf den
Westkaukasus spezialisiert, genauer gesagt, auf die Themen
Kolonialismus und genozidale Gewalt. Ich beobachte mit Sorge, daß in
der aktuellen Berichterstattung zu den Olympischen Winterspielen in
Sotschi 2014 nicht zum Völkermord an den Tscherkessen berichtet
wird. In einer Vielzahl auch kritischer Artikel zu Sotschi 2014
finden die Tscherkessen als angestammte Bewohner der Region weder
Erwähnung, noch wird auf die blutige koloniale Vergangenheit der
Region und die hiermit in Zusammenhang stehenden tscherkessischen
Proteste anläßlich der Spiele verwiesen.
Auch
in Ihrer Zeitung bleibt dieses wichtige und aktuelle Thema
unterbelichtet. Der bislang einzige Hinweis auf diese Problematik
findet sich in dem Artikel „Flucht
der Minderheiten aus Syrien“ von Viktor Funk, in dem es im
letzten Paragraphen heißt:
„Tscherkessen sind
für die russische Staatsspitze noch aus einem anderen Grund ein
heikles Thema: Die Olympischen Winterspiele 2014 finden dort statt,
wo einst das Volk lebte: bei Sotschi am Schwarzen Meer. An die
Vertreibung aus jener Region erinnerten Diaspora-Gruppen, nachdem
Sotschi für die Spiele ausgewählt worden war. Wenn die Winterspiele
beginnen, ist das Ende des russisch-kaukasischen Krieges genau 150
Jahre her.“
Auch
wenn ich es durchaus als erfreulich empfinde, daß hiermit die
Problematik als solche in Ihrer Zeitung umrissen wurde, so dürfte
dieser kleine und noch dazu geographisch völlig anders eingeordnete
Hinweis für die allermeisten Leser doch nicht ausreichend sein, um
die entsprechenden Verknüpfungen herzustellen und sich ein
ausgewogenes Bild zur Lage im Westkaukasus und den dort
stattfindenden Olympischen Winterspielen zu machen. Ich hatte Sie
deswegen bereits zuvor auf dieses Manko hinweisen und um eine etwaige
Stellungnahme bitten wollen, war aber aus zeitlichen Gründen bisher
nicht dazu gekommen. Nun habe ich gestern beim Kommentieren in Ihrer
Zeitung jedoch einen Vorgang erlebt, den ich nicht mit Schweigen
übergehen möchte.
Mein
konkretes gestriges Anliegen war gewesen, auf den Fall des
renommierten türkischen Journalisten Fehim Taştekin
zu verweisen, der jüngst für rund 2 Tage
im Wartebereich des Flughafens Sotschi festgehalten und noch dazu mit
einem fünfjährigen Einreiseverbot für die Russische Föderation
belegt worden war. Gründe waren ihm nicht genannt worden, es ist
jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß seine zuvorige
kritische Berichterstattung zu Sotschi 2014 wie auch die Tatsache,
daß er in etlichen seiner Artikel auch auf tscherkessische
Perspektiven und Belange eingegangen war, ursächlich hierfür sind.
Insbesondere das fünfjährige Einreiseverbot stellt für den
Auslandskorrespondenten der türkischen Tageszeitung Radikal eine
erhebliche, geradezu existenzbedrohende Arbeitsbehinderung dar.
Der Journalist selbst bezeichnete den
Vorgang als beruflich „tödlich“ für ihn.
Da
deutsche Medien bisher nicht über diesen
Fall berichtet haben, hatte ich mir
anläßlich Ihrer Artikel zu
Ilja Trojanow, dessen Erlebnisse meines Erachtens doch sehr ähnlicher
Natur sind, erlaubt, in der Kommentarleiste auf seinen türkischen
Kollegen und die fehlende deutsche Kenntnisnahme zu verweisen.
Gestern morgen also habe ich zu dem auf FR veröffentlichten
dpa-Bericht „USA
lassen Schriftsteller Trojanow nicht einreisen“ folgenden –
ich gebe zu, etwas verärgerten, aber, wie ich meine, doch
keinesfalls Netiquette-widrigen - Kommentar getätigt:
„Und
natürlich in deutschen Medien wieder kein einziges Wort über den
ganz ähnlich gelagerten Fall des Journalisten Fehim Tastekin, der
letztes Wochenende 2 Tage lang am Flughafen von Sotschi festgehalten
wurde plus eine fünfjährige Einreisesperre erhielt, siehe
http://www.freitag.de/autoren/irma-kreiten/einreiseverbot-fuer-kritischen-journalisten
oder
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/2013/09/am-flughafen-von-sotschi-festgehalten.html.
Deutsche Journalisten – schämt euch!!!“
Es
erschien nach Absenden (da noch frühmorgens), der Hinweis, daß die
Freigabe des Kommentars offen stände. Anschließend wollte ich den
inhaltlich verwandten Bericht „USA:
Schriftsteller Trojanow Einreise verweigert“ kommentieren und
schrieb hierzu:
„Ähnlich
gelagerter Fall, zu dem sich die deutschen Journalisten-Kollegen
ausschweigen:
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/2013/09/am-flughafen-von-sotschi-festgehalten.html.“
Leider bekam ich
trotz mehrerer Versuche mit jeweils erneutem Einloggen jedes Mal beim
Absenden die Rückmeldung, die Session sei abgelaufen. Ich konnte
meinen Kommentar demzufolge nicht absenden. Zu diesem Zeitpunkt
existierten zu diesem Artikel bereits zwei freigeschaltete
Kommentare.
Als ich gestern
Nachmittag die genannten beiden Berichte erneut aufrief, mußte ich
feststellen, daß mein Kommentar zum ersten Artikel („USA lassen
Schriftsteller Trojanow nicht einreisen“) nicht freigeschaltet
worden war, und auch – hier allderdings erwartungsgemäß – daß
meine Kommentarversuche zum zweiten Artikel ( „USA: Schriftsteller
Trojanow Einreise verweigert“) nicht erfolgreich gewesen waren. Ein
nach mir getätigter dritter Kommentar eines anderen Lesers war
demgegenüber angekommen und veröffentlicht worden. Es kann sich
also nicht um ein technisches Problem gehandelt haben, das alle Leser
betroffen hätte. Ich versuchte das Versenden meines Kommentares
daraufhin erneut und stieß wieder – mehrfach - auf das Problem
einer angeblich abgelaufenen Session.
Daraufhin habe ich
kontrollweise einen beliebigen anderen Artikel aufgerufen
(http://www.fr-online.de/panorama/flughafen-duesseldorf-verdaechtiger-koffer-voller-back-zutaten,1472782,24500948.html)
und hier ein belangloses
„Interessant.“ als Kommentar hinzugefügt, dieser Kommentar
erschien in Sekundenschnelle, ohne jegliche technische
Schwierigkeiten. Das Problem der abgelaufenen Session scheint sich
somit auf mich und diesen speziellen Artikel beschränkt zu haben.
Ich kann dies
zusammen mit der Nichtfreigabe meines anderen Kommentars leider nicht
anders deuten als einen zweifachen Zensurvorgang, mittels dessen ein
sensibles aktuelles Thema aus der öffentlichen Debatte
herausgefiltert wird. Für mich ist dies keineswegs eine
ungewöhnliche Erfahrung, ich habe während meiner jahrelangen
Beschäftigung mit diesem Thema immer wieder Ähnliches erlebt,
zuletzt beim Spiegel wie auch bei der Jungen Welt. Letztere hat auf
meinen offenen Brief hin Position bezogen, sich mit einer technischen
Panne entschuldigt und meinen Leserbrief im Nachhinein
freigeschaltet, auf das Antwortschreiben des Spiegels zu meiner
Anfrage
wie auch eine Rücknahme der dortigen Zensur warte ich leider nach
wie vor.
Nun bin ich mir
bewußt, daß Zeitungen und Online-Redakteure sich bei
Leser-Kommentaren ein gewisses Hausrecht einräumen. In diesem
speziellen Falle halte ich ein solches allerdings ganz und gar für
deplaziert, da das Thema als solches in der öffentlichen Debatte
bisher nicht präsent ist und eine Nichtfreigabe entsprechender
Kommentare damit selbst eine Kenntnisnahme am Rande verhindert.
Meines Erachtens müßte es doch zumindest
im Sinne der Kollegialität selbstverständlich sein, über einen wie
Journalisten wie Fehim Taştekin
zu berichten und ihm eine minimale Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Das Schweigen deutscher Medien zu der tscherkessischen Problematik
der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 wie auch zu
Arbeitsbehinderungen, Einschüchterungen und Drohungen gegenüber
Aktivisten und Intellektuellen, die sich mit dieser Thematik
beschäftigen, stellt - wiederum aus meiner persönlichen Sicht -
eine Verlängerung des (post-)kolonialen Schweigens und der Praktiken
des Verschweigens und Vertuschens des Völkermords an den
Tscherkessen dar – auch wenn dies im Einzelfall nicht beabsichtigt
sein mag sondern dem geringen Bekanntheitsgrad der Thematik
geschuldet sein kann.
Ich möchte Sie hier
darum um eine Stellungnahme zur fehlenden Berichterstattung zu den
tscherkessischen Aspekten von Sotschi 2014 und Ihrem türkischen
Kollegen Fehim Taştekin, wie
auch zur Verhinderung meiner aktuellen Leserkommentare bitten. Ich
werde Ihr Antwortschreiben dann zusammen mit der vorliegenden
Anfrage auf meinem blog unter
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/ einstellen.
Ich danke Ihnen im
Voraus für Ihre Mühe,
Mit freundlichen
Grüßen,
Irma Kreiten
P.S.: Um keine
Zweifel an der Richtigkeit meiner Darstellung aufkommen zu lassen,
habe ich den gestrigen Vorgang als Ganzes dokumentiert. Falls Sie
eine Überprüfung meiner Aussagen wünschen, beziehen Sie sich bitte
auf meinen blog, auf dem ich zusammen mit diesem Schreiben auch
die von mir angefertigten Screenshots
einstelle."
Screenshots:
1. Kommentar zu USA lassen Schriftsteller Trojanow nicht einreisen:
Rückmeldung der Seite auf Absenden meines Kommentars hin:
2. Fehlgeschlagene Kommentarversuche zu USA: Schriftsteller Trojanow Einreise verweigert:
3. (Kontrolle Nachmittags) Fehlender Kommentar zu USA lassen Schriftsteller Trojanow nicht einreisen:
Dagegen erschienene Kommentare zu USA: Schriftsteller Trojanow Einreise verweigert, von denen der 3. Kommentar nach meinen eigenen Versuchen erfolgte (ich arbeite von Istanbul aus, es ist somit eine Zeitverschiebung von einer Stunde zu beachten):
4. Weitere fehlgeschlagene Versuche zu USA: Schriftsteller Trojanow Einreise verweigert:
6. Erfolgreicher "Probe"-Kommentar zu Verdächtiger Koffer voller Back-Zutaten: