Nach dem ersten Vorabauszug aus dem am 2. Oktober erscheinenden
Buch Manfred Quirings „Der
Vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen.“
hier nun der zweite Teil, in dem es um tscherkessische Perspektiven
auf die Olympischen Winterspiele 2014 geht. Autor und Verlag hatten
mir freundlicherweise gestattet, eine Textauswahl zu treffen und die
entsrpechenden Passagen vorab auf meinem blog zu veröffentlichen.
Wer jetzt neugierig wird auf mehr, für den sind hier die vollständigen
Erscheinungsdaten:
Manfred Quiring: „Der Vergessene
Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen. Mit einem
Vorwort von Cem Özdemir.“. Berlin: Christoph Links Verlag GmbH,
2013
ISBN: 978-3-86153-733-5
Seiten: ca. 224
Preis: ca. 16,90 EURO
Olympische
Winterspiele am heiligen Ort
[S. 145]
»Hätte
Präsident Putin uns auch nur erwähnt, er wäre unser Held gewesen.«
Davon ist Samir Chotko, Historiker am ethnografischen Institut in
Maikop, überzeugt. Doch Putin hat in seinen Auftritten im Vorfeld
der Olympischen Winterspiele stets vermieden, über die Ureinwohner
der Region zu sprechen. Da hätten Griechen und Ar[-]menier
gelebt, teilte der Kremlchef der Welt in seinen Ansprachen mit, aber
dass der tscherkessische Stamm der Ubychen hier bis zu seiner
weitgehenden Vernichtung und der Deportation der Über[-]lebenden
im 19. Jahrhundert gesiedelt hatte, ließ er unter den Tisch fallen.
Stattdessen traten während der Olympiabewerbung und bei [S.
146] anderen Gelegenheiten Kosakenchöre und
Tanzgruppen auf, die als die eigentlichen Ureinwohner präsentiert
wurden.
Wie
mehrheitsfähig die Meinung von Samir Chotko ist, dass al[-]lein
ein rechtes Wort des Staatschefs zur rechten Zeit die Stimmung
grundsätzlich zu verändern geeignet gewesen wäre, ließ sich auch
nach zahlreichen Gesprächen am Ort nicht genau feststellen. Zu
unterschiedlich waren die Meinungen. In einem indes waren sich alle
meine Gesprächspartner in der adygejischen Hauptstadt einig: Die
Olympischen Winterspiele in dem Jahr abzuhalten, in dem sich die
Tragödie des tscherkessischen Volkes zum 150. Mal jährt, und dann
ausgerechnet in Sotschi, sei eine ganz schlechte Idee.
»Sotschi«,
so argumentiert Samir Chotko in sprudelnder Rede, »ist ja nicht nur
das Symbol für das süße Leben früher in der Sowjet[-]union
und heute in Russland. Die Stadt ist auch das Symbol für das
verlorene Land Tscherkessien, das von der Landkarte verschwunden ist.
Sie ist das Symbol der Tragödie des tscherkessischen,
insbeson[-]dere
des ubychischen Volkes, das in Sotschi und Umgebung gelebt hat.« Die
Tscherkessen verbinden mit Sotschi und dem in den Ber[-]gen
gelegenen Ort Krasnaja Poljana nicht nur die schmerzliche
Er[-]innerung
an die Niederlage, an den an ihrem Volk verübten Geno[-]zid,
sondern auch an die Vertreibung Hunderttausender aus ihrer Heimat.
Hier tagte die Medschlis, das tscherkessische Parlament, weshalb
Sotschi – ubychisch Schetsch – als letzte tscherkessische
Hauptstadt gilt.
Eigentlich
gebe es andere, eindrucksvollere »Orte des Genozids«, sagt Chotko
und verweist auf Städte wie Anapa oder Maikop, wo wesentlich
blutigere Kämpfe stattgefunden haben. Aber die haben im Bewusstsein
der Tscherkessen nicht den Stellenwert erlangt, wie es eben bei
Sotschi und Krasnaja Poljana der Fall ist. »Olympia in Maikop oder
Naltschik wäre aus historischer Sicht kein Problem«, glaubt Chotko.
Doch Sotschi war ein Eigentor Putins.
»Denn
dank der bevorstehenden Olympiade wurde die Debatte um die
Anerkennung des Genozids des tscherkessischen Volkes von der lokalen
auf die internationale Ebene gehoben. Das war Putins eigene
Entscheidung!« Chotko weiß nicht, ob Putin selbst sich der
Tragweite bewusst gewesen ist, »aber seine Umgebung hätte wissen
müssen, was da losgetreten wird«.
Tatsächlich
wäre keine der in Russland oder in der Diaspora agie-[S.
147] renden tscherkessischen Organisationen in der Lage
gewesen, so eine weitreichende Debatte um das Schicksal der
Tscherkessen zu entfalten, wie es Putin mit seiner
Olympia-Entscheidung gelun[-]gen
ist. Eigentlich müssten die Tscherkessen ihm dankbar sein, dass er –
vermutlich ungewollt – die Blicke der Weltöffentlichkeit auf
dieses Problem gelenkt hat.
Für
die Aktivisten von NoSochi2014, die sich weltweit um die gleichnamige
Website gesammelt haben, ist Sotschi eine »No-go-Area«.
Die Spiele dürfen dort nicht stattfinden, wurden sie nicht müde,
auf ihrer Internet-Seite zu propagieren. »Wir fordern die Welt und
das IOC auf, Russland die Olympischen Spiele in Sotschi zu entziehen,
weil sie am Ort des tscherkessischen Genozids statt[-]finden.«
[Anm.
147]
Sie
warfen dem russischen Vorbereitungskomitee vor – und das zu Recht
–, dass es auf seiner Website durch »irreführende
Informa[-]tionen«
versuche, Sotschi von seiner Geschichte zu trennen. »Es sei
unmöglich für den Nordkaukasus, der die Heimat der
tscherkessi[-]schen
Zivilisation ist, und für Sotschi, das die letzte Hauptstadt des
unabhängigen Tscherkessien war, weltweite Reputation zu erlangen
durch Lügen und geschönte Diskurse.« [Anm.
148]
Sotschi
und seine Umgebung hätten sich durch den russisch-kaukasischen
Krieg im 18. und 19. Jahrhundert in einen Friedhof verwandelt, heißt
es in der Erklärung weiter. Für die Tscherkessen werde diese Wunde,
geschlagen von den Russen, niemals heilen. Die 1,5 Millionen
getöteten Tscherkessen machten die Hälfte aller damals lebenden
Tscherkessen aus. Etwa 90 Prozent der verblieben[-]en
Tscherkessen leben außerhalb ihres Heimatlandes, was sie,
ver[-]glichen
mit anderen Nationen, »proportional zur größten Diaspora in der
Welt macht«.[Anm.
149] Über Zahlen wird indes heftig gestritten. Je nach
Herkunft fallen sie teils sehr hoch – bei den Tscherkessen –
oder
sehr niedrig – bei den Russen – aus.
Ibrahim
Khuaj, dessen internationale Interessengruppe Patrioten
Tscherkessiens sich für die Rückkehr seiner Landsleute in den
Kaukasus einsetzt, hält nichts von der Losung »No Sotschi«, wie er
mir bei unserer Begegnung in Maikop sagte. Zwar missfällt auch ihm
wie den meisten Tscherkessen in Adygeja zutiefst, dass die
Winter[-]spiele
2014 an diesem historischen Ort stattfinden. Aber er ist Rea[-]list.
»Wir brauchen keine Feindschaft, wir brauchen freundschaft-[S.
148] liche Beziehungen zu allen Russen, zu den
Behörden, damit unsere Leute aus Syrien, aber auch aus anderen
Ländern, möglichst unge[-]hindert
hierherreisen können und sich ihr Leben in einer friedli[-]chen
Umgebung aufbauen können.« Für ihn hat das Überleben der
Tscherkessen als Nation, was seiner Meinung nach nur in einem
kompakten Siedlungsraum in der alten Heimat möglich ist,
eindeu[-]tigen
Vorrang. Er hätte sich allerdings gewünscht, dass die
Tscher[-]kessen
als Ureinwohner des Kaukasus und besonders der Region um Sotschi in
die Vorbereitungen auf die Spiele einbezogen würden. Das habe bisher
nicht stattgefunden, bedauerte er.
Auch
eine Präsentation der tscherkessischen Stämme während der
Eröffnungszeremonie wäre denkbar gewesen. So war es in
Vancou[-]ver,
wo die »first Nations«, die indigenen Völker, dabei waren, so war
es in Melbourne, wo die Aborigines gefeiert wurden.
Interessenvertreter der indigenen Völker hatten die Art und Weise
ihrer Einbezie[-]hung
zwar gerügt: zu wenig, zu spät, zu plakativ, hieß es. Das mag
stimmen. Aber die einstigen Bewohner des Kaukasus, die die
Putin-Mannschaft wie Leprakranke ins dunkle
Hinterzimmer der Ge[-]schichte
zu drängen versucht und von allen halbwegs offiziellen
Ver[-]anstaltungen
fernhält, wären auch von derlei bescheidenen Gesten schon angetan.
Das
olympische Vorbereitungskomitee verwies, sozusagen als
Be[-]ruhigungspille,
darauf, dass es im Vorfeld der Spiele die sogenannte Kulturolympiade
gebe. Daran würden über 100 Ethnien teilnehmen, die in der
Sotschi-Region leben. Darunter auch die Tscherkessen.
147
Vgl. http://www.nosochi2014.com/
148
Ebd.
149
Ebd